Yvonne Franke
Vor der Isle of White in einem hölzernen Boot, gebaut vom eigenen Vater und in dessen Begleitung, gerät der Naturwissenschaftler Hugh Aldersey-Williams in Lebensgefahr. Und das trotz der Berechnungen, die die erfahrenen Segler vor ihrer Überfahrt von Weymouth nach Yarmouth angestellt hatten. Trotz der vorab eingeholten Informationen über Windstärke und Gezeitenbewegungen. Die Macht und Unberechenbarkeit des Meeres, fuhr Aldersey-Williams in Herz und Knochen. Mit unbändiger Neugier erforscht er seitdem die Gezeiten - mathematisch, philosophisch, kunsthistorisch. Er beginnt mit eigenen Beobachtungen, verbringt zwölf Stunden höchster Konzentration an der Küste von Norfolk. Aldersey-Williams notiert Hoch- und Niedrigwasserstände, erläutert Flora und Fauna und hat dabei ein Auge für zahlreiche poetische Momentaufnahmen. „Mit kehligem Glucksen machen sich Boote wieder vom Grund los. Ich beobachte, wie das auflaufende Wasser den Fußabdruck einer Möwe auffüllt.“ Von hier aus, aus dem ganz Kleinen, geht die Reise ins Innere der Gezeiten los. Über Friedrich II., König von Sizilien, der im 13 Jahrhundert exzentrische Experimente zur Erforschung des Meeresgrundes durchführte, über Homer, Aristoteles und Galileo. Bis hin zu zu Händels „Wassermusik“, beleuchtet Aldersey-Williams Ebbe und Flut mit anregender Leidenschaft aus allen denkbaren Perspektiven. Dabei spult er nie nur mühsam anstudiertes Wissen ab, sondern hinterfragt alles mit Witz und Poesie, in hinreißend bildhafter Sprache. Plötzlich ist es „sehr gut möglich, dass das schrille Klatschen des dem Wind entgegen wirbelnden Wassers ein peitschendes Schlagen und Schreien hervorruft, das an sizilianische Straßenköter erinnert.“