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sursulapitschi

Posted on 4.11.2020

Die Idee ist spannend: Nehmen wir an, Jesus wäre einfach nur ein Mensch gewesen. Wie könnte dann seine Geschichte ausgesehen, wie könnten sich Ereignisse, die wir aus der Bibel kennen, tatsächlich abgespielt haben? Sue Monk Kidd schafft es, ein altertümliches Jerusalem lebendig zu machen. Die Römer beherrschen alles, Herodes Antipas eifert ihnen nach, interessiert sich nicht für jüdische Traditionen und unterdrückt gnadenlos das Volk. In dieser Welt wächst Ana heran, die 14 Jahre alt ist, als sie auf dem Markt den 20jährigen Jesus kennenlernt. Ihr Bruder Judas sympathisiert mit einer Rebellentruppe. Frauen haben in dieser Gesellschaft nichts zu sagen, müssen sich nach den Wünschen ihrer Väter, Brüder oder Onkel richten und gehorchen, sonst gerät man schnell in Verruf. Diese Welt verzeiht keine individuellen Attitüden. Über Jesus Mutter Maria wird zum Beispiel gemunkelt. Ist Joseph vielleicht nicht sein Vater? Nach Josephs Tod sagte Jesus diplomatisch: Jetzt ist Gott mein Vater. So weit hätte mir das Buch wirklich gefallen können, würde es nicht in einer unglaublich blumigen Sprache erzählt werden. Zugegeben, so ein Erzählstil trägt auch zur altertümlichen Atmosphäre bei, allerdings schießen hier die bildhaften Vergleiche immer wieder deutlich über das Ziel hinaus und wirken eher lächerlich als poetisch. „Mein Bruder sah aus, als hätte die Welt ihre Zähne in ihn geschlagen und sogleich wieder ausgespuckt, weil er so schrecklich schmeckte.“ „Ich hatte die Welt zu fest umarmt und jetzt war sie mir entglitten.“ „Eine gewaltige Welle brach sich in meiner Brust.“ „Mein Herz schlug in meinem Brustkorb mit den Flügeln wie ein zappelnder Spatz.“ Was ein fundierter historischer Roman hätte werden können, wirkt durch den Stil schnell trivial. Auch die Figur der Ana ist eher eine wackere Schnulzenheldin als eine glaubwürdige Protagonistin. Bildschön, klug, tapfer, besessen von dem Bedürfnis zu schreiben, ist sie zu großen Teilen des Buches hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Schriften vor der Welt zu verstecken, statt sich dafür zu interessieren, was ihr Liebster auf seinen Reisen wohl tut. Dazu hat sie noch bedeutungsvolle Visionen und eine Zauberschale, beides mysteriös aber ohne Effekt. Auch die Logik weist Lücken auf. Den wirklich interessanten Teil der Jesusgeschichte, sein Wirken als Prediger und seinen Konflikt mit den Mächtigen, erlebt der Leser dann leider nicht mit, weil er mit Ana nach Ägypten reist. Man fühlt sich abgeschoben, während die spannenden Dinge anderswo passieren, weshalb das letzte Drittel des Buches dann komplett uninteressant ist. Hier wurde ein anspruchsvolles Thema zum Historical aufbereitet. Und wenn dieses Werk tatsächlich als Fanal für Frauenrechte herhalten soll, frage ich mich, warum man dazu die Stilmittel banalster Frauenliteratur benutzt. Ist das weibliche Selbstfindung?

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