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anne_hahn

Posted on 3.11.2020

„Wenn ich nur Geld hätte, dann könnte ich dir welches geben. Das würde ich so gerne. Ich will ja alles richtig machen, aber ich habe Angst. Es gibt so viel, was ich nicht verstehe. Meine Augen brennen, sie tun so weh. Warum muss man groß werden, das tut so weh, so weh. Wär ich doch bloß nie auf die Welt gekommen, für dich wäre das auch besser gewesen. Wenn niemand auf die Welt käme, müsste auch niemand leiden!“, schrie sie unter Tränen, nahm zwei Eier auf einmal und schlug sie sich an den Kopf." Midoriko steht weinend da, gelbe Sprenkel verteilen sich über Brust und Schultern, am Ausschnitt ihres T-Shirts ist Eiweiß hängen geblieben. Ein pubertierendes Mädchen schreit ihre Mutter an, während sie sich Eier auf dem Kopf zerschlägt. Die Mutter ist wegen einer geplanten Brustvergrößerungsoperation nach Tokio gereist, zu ihrer Schwester Natsuko. Alle drei Frauen stehen in der Mini-Küche Natsukos, weinen schließlich zusammen und bewerfen sich mit Eiern. Diese Szene ist die vorletzte der ursprünglichen Novelle Mieko Kawakamis, welche nunmehr den ersten (163 Seiten langen) Teil ihres Romans "Brüste und Eier" bildet. Für die Novelle erhielt Mieko Kawakami einen wichtigen japanischen Literaturpreis, die Autorin wird für ihre Abkehr vom traditionellen und patriarchalen Rollenbild gefeiert. "Das Cover gefällt mir überhaupt nicht und den Titel finde ich unmöglich!" – beginnt eine Amazon-Kritik, die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung wird ebenfalls deutlich: "Manche Cover sind ein Verbrechen. Das hier zum Beispiel." Ich schließe mich an und gebe zu, dass mir die himmelblau-rosarote Verpackung ein falsches Versprechen schien. Mehrfach wollte ich das Buch beiseite legen. Zu selbstquälerisch fand ich den Ton der Autorin, zu anklagend, zu körperbetont. Es ist immer heiß in ihrem Text, die Ich-Erzählerin Natsuko schwitzt, der Schweiß läuft, rinnt, klebt... Im Original heißt der Roman "Natsu monogatari", was übersetzt so viel wie Sommererzählung bedeutet. Die Novelle des Beginns spielt im Sommer 2008, die 330 Seiten des zweiten Teils in den Sommern 2016 bis 2019. Nach und nach packt mich der Roman, tauche ich ein in die Welt der asexuellen Schriftstellerin Natsuko, ihre Begegnungen, Ängste und Träume. Da ist die drohende Armut, aus der sie kam, die Mutter und Schwester annagt, die Welt der Nachtclubs und Bars, das Biertrinken. Die Angst vor Körpern, selbst dem eigenen, das Unvermögen – ja die Abwesenheit von (körperlicher) Liebe. Und immer wieder Frauen; die Schwester, Nichte, Buchhändlerin-Kollegin, Agentin, Autorin, Großmutter, Mutter. Lebende und Tote – und ein bereits veröffentlichter Roman der Ich-Erzählerin über Tote, die Lebende beeinflussen. Oma Komi erscheint ihr im Badehaus, der zwergenhafte Vater in einer dunklen Straßenecke und ein durch Samenspende gezeugter Mann tritt ganz leibhaftig in ihr Leben. Es ist ein Buch, das mich beunruhigt. Mir nicht eindeutig sagt, wen ich darin lieben kann, mit wem ich fühlen soll. Das Fremdeln geht einfach. Der Roman stößt ab und zieht an, ist grandios in seinen Naturbeschreibungen, stark in allen Nebenfiguren, in der Einsamkeit der Hauptfigur berührend. Ich will sie schütteln, aus dem Buch zerren und an Schultern packen, leb doch, Mädchen! – während sie neben dem coolen (und in sie verliebten) Mann einfach nur dasitzt, auf das Kondenswasser ihres Kaffeebechers schaut und überall auf ihrer Haut Salzbläschen spürt. Der Schweiß war inzwischen getrocknet... "Sanft stiegen wir auf, man spürte kaum, dass die Gondel sich bewegte. Aizawa und ich saßen einander gegenüber und schauten aus dem Fenster. Die Plastikscheibe, falls es überhaupt Plastik war, war fast milchig verkratzt. Lautlos schob sich die Gondel in den Sommerhimmel. Das Dach des Aquariums verschwand in der Tiefe, die Bäume in dem Park daneben und die anderen Gebäude wurden immer kleiner. Das Meer kam in Sicht. Sanft linierte Wellen, so dunkel, dass sich kaum sagen ließ, ob sie asch- oder bleigrau waren. Boote, die weiße Spuren zogen."

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