wandanoir
Von Ideologie und Idealismus. Anne Weber wurde für ihren Roman „Annette, ein Heldinnenepos“ mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet. Endlich hat sich der Deutsche Buchpreis etabliert. Deren Preisträger machen neugierig. Die geneigte Leserschaft bekommt in dem Kurzporträt, das Anne Weber auflegt, deren Sichtweise auf die beschriebene Person geschenkt, nämlich auf Anne Beaumanoir, geboren 1923 in der Bretagne. Die bei uns keiner kennt. Der Blick Anne Webers muss sich nicht mit dem Blick Anne Beaumanoirs auf sich selbst und ihr Leben decken. Zum Zeitpunkt der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2020 ist die "Heldin" siebenundneunzig Jahre alt und äußerte sich dazu. Eine solche Deckung kann es nicht geben, noch ist sie wünschenswert. Denn Anne Weber spart bei allem gebotenen Respekt, Faszination und Bewunderung vor dem Engagement für Humanismus, Freiheitskampf, Gerechtigkeit der Annette Beaumanoir durchaus nicht mit kritischem Hinterfragen. Fragen wie „Heiligt der Zweck die Mittel und darf man seine Kinder zugunsten eines Ideals aufgeben“, erinnern an die durchaus kontroverse Beschäftigung mit der Figur der RAF-Terroristinnen. Hei, äh, war jene Annette denn eine Terroristin? Könnte man so sagen. Keine, die selber Hand anlegte und auch keine, die Gewalt befürwortet, aber dennoch ein Mensch, der Gewaltausübung billigend in Kauf nahm. Sie war eine Terroristin, aber zuerst war sie ein Mensch, der nicht alles so hinnehmen wollte, wie er es vorfindet. Allerdings war sie auch in ihren Idealen verfangen und verblendet. Hätte es das Internet schon gegeben, wäre alles anders gekommen! Zweimal für eine längere Zeitperiode geht Annette in den Widerstand beziehungsweise in den Untergrund. Bereits als junges Mädchen arbeitet sie für die Resistance in Frankreich. Und ein zweites Mal, nach einer längeren ruhigeren Lebensphase, in der sie sich ihrer Familie und ihrer Karriere als Medizinerin widmet, engagiert sie sich im FLN, also im algerischen Unabhängigkeitskampf, wofür sie in Paris zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, deren Vollzug sie sich durch Flucht entzog. Das Epos, das Anne Weber vorträgt, also die literarische Form, stört leserisch überhaupt nicht, erlaubt der Autorin jedoch ein Abrücken von der tatsächlichen Person. Anne Webers Epos entspricht zwar größtenteils durchaus den Fakten, lebt aber dennoch auch von der Distanz und dem, was nicht auf dem Papier steht, sondern im Kopf des Lesers passiert. Das Epos ist komprimiert und eben keine Biographie. Ein guter Teil des Werks ist dem Unabhängigkeitskampf Algeriens gewidmet. In Afrika hat Annette lange gelebt und dort sogar politische Ämter bekleidet. Als das unabhängig gewordene Land Algerien jedoch schlussendlich doch vom Militär regiert wird, das politische Gegner gnadenlos eliminiert, muss Annette um ihr Leben fürchten und emigriert in die Schweiz. Hier endet das Epos, weil das „normale Leben“ beginnt. Ganze fünfzig Jahre, alle jene, in denen die Heldin sich der medizinischen Forschung widmete und die Jahre im Rentenalter, in denen die Heldin keinesfalls untätig auf ihren vier Buchstaben hockt, fallen mit einem Federstrich weg. Was mag wohl am Ende eines Lebens mehr zählen? Fazit: „Annette, ein Heldinnepos“ ist ein lesenswertes Buch, das uns einen Menschen zeigt, der ein Mensch geblieben ist in unmenschlichen Zeiten. Der Roman zeigt uns aber auch, dass Idealismus und Ideologie keineswegs zu besseren Ergebnissen führen müssen und es Menschen ohne Fehl und Makel einfach nicht gibt. Preisträgerin des Deutschen Buchpreises 2020 Kategorie: Anspruchsvolle Literatur Verlag: Matthes und Seitz, 2020