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wandanoir

Posted on 30.10.2020

Der Marchenstreit. Historisch geht auch ohne Schwulst. Wir befinden uns mit der Erzählung von Charles Lewinsky in einem heute in der Schweiz liegenden Dorf in der Nähe des Klosters Einsiedeln. Das Kloster hat einen Streit mit den umliegenden Dörfern über einige Almen, Wiesen, Waldgebiete. Wem gehört was? Der Fürstabt pocht auf Dokumente, die die Mehrzahl der Dorfleut aber erstens nicht lesen können, und zweitens, die der Fürstabt auch nicht zum Lesen herausrückt. Es geht hin und her und eines Tages eskaliert der sogenannte „Marchenstreit“. Im Mittelalter geht es immer um Macht und Pfründe auf der einen Seite, nämlich auf der Seite der Herrschenden, und auf der anderen, nämlich der Bauern und Handwerker, ums Überleben. Um das Sattwerden. Und auch um das Seligwerden, denn die Religion spielt eine Rolle. Unser Held, den Charles Lewinsky mit Ernst und Laune entworfen hat, der aufgeweckte Junge Eusebius, Sebi genannt, wächst sowohl mit dem heiligen katholischen Glauben wie auch mit dem Unglauben, nämlich mit einer gehörigen Portion Aberglauben in einer instabilen Familie auf. Denn der Vater ist lange tot und die Mutter bringt ihre drei Söhne alleine durch. Das bedeutet in der ländlichen Gegend: jede Menge Feldarbeit. Der Sebi müht sich, aber er ist ein Zarter. Die raue Feldarbeit ist nichts für ihn. Ausserdem denkt er zu gerne nach! Zwei wesentlich ältere Brüder stehen ihm zur Seite, der Poli, der cholerisch ist, aber stark und der Geni, der klug ist und dem Sebi sein Trost. Jaja, der Dativ. Das ist beabsichtigt. Lewinsky lässt Sebi reden. Der Sebi redet halt so. Er hat ein gutes Gedächtnis, so dass er uns, den Lesern, auch mit den lateinischen Zitaten aus der Heiligen Schrift und aus den in Latein gehaltenen Messelesungen kommen kann, er nacherzählt sämtliches Hörensagen im Dorf und Drumherum und kommentiert und kombiniert es mit seinen eigenen Gedanken. Dabei wird ihm klar, dass vieles, was ihm der Aberglaube zu diktieren scheint, unmöglich wahr sein kann. Eines Tages kommt der Halbbart in das Dorf. Das ist ein älterer Mann, dem nicht das Leben, sondern seine Mitmenschen übel, sehr übel mitgespielt haben. Überhaupt ist das Mittelalter nicht zimperlich. Da wird gefoltert, gehauen und gestochen, diffamiert und verleugnet, ausgegrenzt. Wer keinen festen Platz hat, der hat es schwer. Der Halbbart wird für den Sebi wichtig. Denn er ist herumgekommen und weiß manches, was die Dorfbewohner nicht wissen. So erweist er sich als begnadeter Heiler und gewinnt das Herz vom Sebi, dem er auch das „Schachzabel“ beibringt. Was sonst noch vom Sebi, seinen Brüdern und dem Halbbart und den Herrschern seiner Zeit zu erzählen sei und wie der Marchenstreit ausgegangen ist, wer gefallen ist und wer überlebt hat, das lest selber. Charles Lewinsky hat in seinem Roman das Mittelalter aus Sicht der kleinen Leute aufleben lassen, dabei beweist er bei allem Ernst der schwierigen Lebenssituation seiner Helden eine leichte Hand und kreiert echte Charaktere, in die man sich verliebt. Man liest den über 600seitigen Roman gerne, der selbstredend, wie alle gute Literatur ohne Phrasen und Füllselworte auskommt, und lauscht dem Sebi und dem Teufels-Anneli, wenn sie im Sommer durch die Lande zieht und Geschichten über Geschichten erzählen. Dabei kommen Lebensweisheiten und Humor nicht zu kurz. Ganz nebenbei wird deutlich, wie Geschichtsschreibung entsteht oder auch, wenn man es einmal nicht mehr so genau weiß, wie Legendenbildung geschieht. Zitate: „Wissen ist immer nützlich, auch wenn man nie im Voraus wissen kann, für was es sich einmal brauchen lässt.“ „Mit dem Fuchs kann man hundert Friedensverträge abschließen, in den Hühnerhof einladen darf man ihn trotzdem nicht.“ „Man findet vieles nur deshalb lächerlich, weil man es nicht gewohnt ist“. Was fehlt, ist ein Nachwort, in dem die Einpassung des Geschehens in die Historie und in die Zeit erfolgt. Fazit: Der Halbbart ist ein Mittelalterschmöker ohne den üblichen Schmu. Auf hohem literarischen Niveau, aber mit großem Unterhaltungswert, wird ein kleiner Abschnitt schweizerischer Geschichte liebenswert und kunstfertig aufbereitet. „Der Halbbart“ von Charles Lewinsky steht völlig zu Recht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2020. Diogenes, 2020 Kategorie: Belletristik. Longlist 2020

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