emiliana
In der inzwischen kaum noch überschaubaren Krimilandschaft unsres Landes tummeln sich gar viele Kommissare – und man hat manchmal den Eindruck, dass sie – vermeintlich, um dem Leserpublikum einprägsamer zu sein – möglichst exotisch, zumindest ungewöhnlich zu sein haben und folglich auch mit den seltsamsten Charaktereigenschaften nebst sehr individueller kleinerer und größerer Marotten ausgestattet werden müssen. Leider aber geht diese Art der Überzeichnung, anstatt durch Individualität zu bestechen, nur allzu oft auf Kosten der Glaubwürdigkeit, der Authentizität, die für mich unbedingt zu den Kriterien gehören, nach denen ich einen Roman, und dabei muss es sich nicht einmal um einen Spannungsroman im eigentlichen Sinne handeln, beurteile. Nun, auch Ingrid Zellners Ermittler, der in Deutschland geborene Inder Surendra Sinha, dem wir in vorliegender Geschichte bereits zum vierten Mal begegnen, ist gewiss kein alltäglicher Kommissar. Doch was ihn von der Mehrheit seiner fiktiven Kollegen abhebt, sind nicht etwa auffällig absonderliche Verhaltensweisen oder an den Haaren herbeigezogene Exzentrizitäten, sondern es ist vielmehr seine bescheidene, nachdenkliche, äußerst empathische Persönlichkeit, sein lauterer Charakter, ist die ihm innewohnende Freundlichkeit und Höflichkeit denen gegenüber, die ihm begegnen. Er ist eine starke Hauptfigur, ein im positiven Sinne unvergesslicher Kommissar, ein wahrer Glücksgriff, einer, der die Leser auf seine Seite zieht, der Sympathie erweckt, genauso wie Respekt, von dem man immer öfter das Gefühl hat, dass er nicht mehr zeitgemäß ist. Doch bei nicht wenigen Zeitgenossen, die Ingrid Zellner ihn hier wie auch in den Vorgängerbänden begegnen lässt, ist dieser Respekt nicht selbstverständlich – im Gegenteil! Nicht nur ist Surendra seit einiger Zeit und leider noch immer vom Polizeidienst vorläufig suspendiert, sondern auch noch ständig konfrontiert mit Ablehnung aufgrund seines fremdländischen Aussehens, ja mit regelrechtem, geballten Fremdenhass, mit ungerechtfertigten Anschuldigungen und verwerflichem Denunziantentum, das scheinbar nicht auszurotten ist und dem er in geballter Form begegnet, als er seinen Freund, einen pensionierten Kollegen, in Hechingen in der Schwäbischen Alb besucht, in der Hoffnung, dass dieser lebenserfahrene, ihm wohlgesinnte Mann ihm mit Rat und Tat hinsichtlich seiner beruflichen Zukunft zur Seite stehen und bei seiner Entscheidungsfindung hilfreich sein könne. Dass aber der Urlaub ganz anders verlaufen würde als geplant, zeichnet sich schon sehr bald ab, denn wieder geschieht das, was so typisch ist für Surendra: durch die Begegnung mit dem stummen Mädchen Linnea, mit dem er sich während eines Ausflugs zur Hohenzollern-Burg anfreundet, erfährt er nicht nur von einem drei Jahre zurückliegenden Mordfall, der ihn aufmerken und ganz privat eigene, vorsichtige Nachforschungen anstellen lässt, sondern findet darüber hinaus auch noch eine weitere Leiche. Bei der es allerdings nicht bleibt... Zum Bedauern vieler Leser darf Surendra aber, natürlich, nicht ermitteln! Ganz abgesehen von seiner Suspendierung liegt die Zuständigkeit bei dem örtlichen Polizeiapparat – und dessen Vertreter beäugen den Sohn indischer Eltern nicht nur mit Misstrauen, sondern setzen sich auch noch mit einer unverständlichen Schwerfälligkeit in Bewegung, denn zunächst, ein altes Leiden in diesem unserem Lande, muss der Bürokratie Genüge getan werden, muß der vorgeschriebene Weg buchstabengetreu befolgt werden. So ist es nicht überraschend, dass Surendra Sinha letztendlich derjenige ist, der in einem so atemberaubenden wie für ihn selber brandgefährlichen Finale die Hintergründe von am Ende fünf Morden aufdeckt und nur mit viel Glück, gepaart mit der ihm innewohnenden Pfiffigkeit ( wie gesagt, Surendra hat viele Facetten! ) einen völlig aus dem Ruder gelaufenen Killer dingfest machen kann. Also Ende gut, alles gut? Wohl kaum, denn wie im wahren Leben bleibt die eine oder andere Frage offen, zumal der menschenfreundliche Kommissar noch immer nicht rehabilitiert ist. Das wiederum aber gibt berechtigten Grund zu der Hoffnung, dass wir Surendra nicht zum letzten Mal begegnet sind, denn schließlich wünschen sich seine Anhänger nichts sehnlicher, als dass das Leben nach der langen Talsohle, die Surendra durchschreiten musste, nun freundlicher mit ihm umgehen möge.... Summa summarum - „Stumm vor Angst“ gehört in die exklusive kleine Kategorie der Kriminalromane, die mich durchweg überzeugt haben! Hervorragend geschrieben und spannend von Anfang bis Ende, mit Möglichkeiten zum Mitraten, aber auch Mitfühlen, Mitleiden und sich Empören über all die Ungerechtigkeiten und Anfeindungen, mit denen Surendra Sinha ( der „Löwe“ ) geplagt wird, eine starke Hauptfigur, viele emotional berührende Szenen, ein so interessanter wie schöner Schauplatz, genau die richtige Dosis landeskundlicher Informationen, dazu noch mit den Auswüchsen des mit Besorgnis zu beobachtenden Zeitgeistes gespickt – Krimileserherz mit Präferenz des psychologischen anstelle des blutrünstigen Faktors, was willst du mehr?!