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Babscha

Posted on 25.10.2020

„I believe that the Lord God created Wall Street. I believe he got his only son a job at Goldman Sachs. I believe that God has a plan for all of us. I believe my plan involves a seven-figure bonus. I work on Wall Street. And Wall Street just believes.“ (S. 211 – aus einem Comedyvortrag anlässlich des CEO-Jahrestreffens 2012 der New Yorker Investmentbranche) Die Wall Street! Jeder kennt sie und den mit ihr verbundenen, leicht zweifelhaften Mythos vom großen Geld, das von illustren Investmentbanken mit klingenden Namen angelegt und über den ganzen Globus verschoben wird. Und man denkt natürlich an die Bankenkrise 2008, als dort reihenweise Banker mit versteinerten Gesichtern und den obligatorischen Pappkartons voll privater Habseligkeiten in der Hand von jetzt auf gleich auf die Straße gesetzt wurden. Der große Absturz der selbsternannten „Masters of the Universe“. Wenn man sie so entlang geht, was ich in den letzten Jahren viele Male gemacht habe, ahnt und empfindet man erstmal nichts von dem ihr zugeschriebenen Glamour, sondern wundert sich über den morbiden Charme einer typisch engen, eher unansehnlichen Straße in Downtown Manhattan, bei der eigentlich nur der 24 Stunden geöffnete, gut sortierte Duane Reade-Gemischtwarenladen und die unvergleichlich leckeren Schokodonuts vom immer gegenüber der Deutschen Bank platzierten Wägelchen des freundlichen Händlers türkischer Herkunft besonders erwähnenswert sind. Aber darum geht es hier ja nicht, sondern um etwas ganz anderes. Es geht um den Insiderbericht des Autors Kevin Roose, eines Kolumnisten der New York Times, der in seinem Buch tiefe Einblicke in die Mechanismen und ungeschriebenen Gesetze der gnadenlosen, unfassbar kalten und abgezockten Welt der amerikanischen Investmentbanken gewährt, in der dauerhaft nur der überleben kann, der neben den Mindestanforderungen eines scharfen Intellekts gepaart mit totaler Kaltschnäuzig- und gleichzeitig ausgeprägter Leidensfähigkeit bereit ist, sich seinem Arbeitgeber unter vollständiger Aufgabe seines Egos und eines Privatlebens mit Haut und Haaren zu verkaufen und, trotz natürlich exzellenter Vorbildung zunächst am untersten Ende der betrieblichen Nahrungskette stehend, diesem rund um die Uhr widerspruchslos zu Diensten zu sein. Ein in sich geschlossenes, bewährtes System (das exakt so auch in der Welt des „Big Law“, also der Top-Anwaltskanzleien Amerikas, praktiziert wird), in dem topgerankte Studenten der handverlesenen „Ivy-League“-Unis bereits auf dem Campus umworben und mit exorbitanten Gehältern geködert werden (schließlich sind ja auch die regelmäßig sechsstelligen Studienkredite irgendwann mal zurück zu zahlen), um diese dann unmittelbar mit Start in den Job die unbarmherzige Realität einer hierzulande schier unvorstellbaren Hierarchiestruktur incl. entsprechendem Arbeits- und Verantwortungsdruck kennenlernen zu lassen. Roose hat ab 2009 drei Jahre lang in der Szene akribisch und gegen viele Widerstände recherchiert und die Erfahrungsberichte verschiedenster Absolventen der relevanten amerikanischen Top-Universitäten im „Finance“ gesammelt. In seinem Buch stellt er acht junge Leute mit deren persönlichen und beruflichen Werdegängen, ihren durchgängig apokalyptischen Erfahrungen in den ersten zwei Berufsjahren als „Analyst“ bei verschiedenen Banken und Investmenthäusern, aber auch deren innere Reifung und Weiterentwicklung vor. Es ist bezeichnend, dass bei nahezu allen diesen zunächst naiv-hoffnungsvoll gestarteten und vom Glanz des großen Geldes geblendeten jungen Menschen schon sehr bald in ihrem neuen Dasein als ignorierte, verheizte Fußsoldaten und Befehlsempfänger mit 100-Stunden-Arbeitswochen im 24/7-Stil die große Ernüchterung einsetzt, hieraus folgende depressive Phasen und Überlastungszustände wie zwangsläufig mit Alkohol und Drogen kompensiert werden und irgendwann sich jeder/jede dieser Aspiranten fragt, wie lange er/sie dieses perfide, amoralische Spiel eigentlich noch mitspielen will. Und die meisten steigen dann tatsächlich (und glücklicherweise) auch aus und orientieren sich neu. Das Buch ist eine sehr fair abwägende, mit Weitblick aufbereitete und hochinteressante Analyse, die die Auswüchse eines festgefahrenen, menschenverachtenden und gierigen Systems thematisiert, das sich einfach nur selbst lebt und immer noch weder die Bereitschaft noch die Fähigkeit besitzt, sich in Frage zu stellen, geschweige denn positiv zu verändern. Eine Industrie, in der somit auch nicht die Besten, Talentiertesten bzw. Menschlichsten gehalten werden, sondern die „Smartesten“, die Angepassten mit den Dollarzeichen in den Augen und der größten Fähigkeit zur Realitätsverdrängung. Pecunia non olet – von wegen!

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