SternchenBlau
Mensch oder Wolf? „Verloren“, ja, das Wort des Titel fügt sich passgenau in die Idee ein. Jana Taysen dringt in ihrem Debüt „Wir Verlorenen“ zum Kern dessen vor, was Dystopien ausmacht: Die Frage danach, was wir denn tun würden, wenn alles zusammenbricht. Bleiben wir menschlich oder werden wir den Menschen ein Wolf? Dieses Kunststück gelingt Taysen damit, dass sie ihre Protagonistin Smilla wie eine ganz alltägliche Teenagerin gestaltet, die sich allerdings durch die Apokalypse navigieren muss. Das fand ich total erfrischend. Ja, Smilla setzt sich total für ihre kleine Schwester ein, aber es wirkt absolut folgerichtig. Die Autorin vermeidet dabei Klischees, sowohl das von der super-hart Bad-Ass-Woman (das eigentlich nur ein Zerrbild eines männlichen ist) und auch das der Special-Snowflake. Generell schafft das Buch einen sehr bestechenden Realismus, das geht bei den Orten in der Eifel los über die Verwendung von Eichelmehl und die Beschreibung der Natur. „Aber jetzt, da Smilla eingehender darüber nachdachte, war das Leben nach der Plage schon die ganze Zeit über so gewesen. Sie hatte so getan, als sei alles wie immer. Sie hatte abgespült, Wäsche gewaschen und sich die Zähne geputzt, immer in dem Wissen, dass es das letzte Mal sein konnte, dass sie diese banalen Dinge tat. Mit der vorgegaukelten Normalität hatte sie die Angst vor der Unberechenbarkeit dieser Welt auf Abstand gehalten. Doch jetzt hatte diese Unberechenbarkeit sie eingeholt und trotzdem spülte sie eifrig weiter.“ Smilla konnte mit ihrer Schwester in einer kleinen Gemeinschaft unterkommen, die Reglementierungen sind gerecht, aber oftmals strikt und dröge. Irgendwann trifft sie auf Falk, den sie vor der Seuche als Nachhilfeschüler hatte. Falk erfüllt ziemlich viel Bad Boy-Kriterien und es ist ziemlich spooky, wie viel er Smilla schon vor der Plage gestalked hat, aber Taysen schildert sehr nachvollziehbar, warum sich Smilla dennoch mit ihm trifft. Weil er sie eben an die Zeit vor der Plage erinnert. Und sie bleibt dieser Entscheidung sehr ambivalent gegenüber, sieht, wie schlimm er sich auch verhält. Irgendwann ist das für mich allerdings dann etwas gekippt. Das fängt damit an, dass der eigentlich spannende Diskurs zwischen Smilla und Falk an vielen Stellen doch sehr oberflächlich bleibt. „»Ist dir klar, was wir da gerade gesehen haben?«, fragte er und legte seine Hände an ihre Oberarme. »Einen Elch?«, fragte Smilla. Sie hatte die Begegnung noch nicht ganz verdaut und war sich nicht sicher, was Falk von ihr hören wollte. »Mutter Natur!«, sagte Falk inbrünstig und schüttelte sie leicht. »Das war Mutter Natur! Sie holt sich alles von uns zurück!“ Als Falks Verhalten immer toxischer wirkt, ist mir dann zu viel Verständnis und Verzeihen. Taysen schafft es über weite Strecken des Buches eben KEINE Gewaltexzesse zu schildern. Das fand ich heilsam und angenehm, obwohl an einigen Stellen auf Gewalt (auch sexualisierte) referiert wird, blieb das im Vagen, wenn auch bedrohlich. Mit der Zeit zog die Spannung auch immer mehr an und ich habe richtig mitgefiebert. CN / Content Note: Gewalt, sexualisierte Gewalt, Tod, Folter, Mord, toxisches Verhalten, Stalking, Ind*aner-Wort Leider gab es dann noch eine versuchte Vergewaltigung, die ich als unnötig lang und quälend beschrieben fand. Das mag auch daran liege, dass ich ab dem ersten Satz wusste, in welche Richtung es gehen wird. Richtig schade fand ich, dass diese Szene dann zu einem wichtigen Wendepunkt in Smillas Geschichte wird. Nein, es ist noch nicht so, dass ich das Buch an der Stelle sofort zuschlagen wollte. So viel: „Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“, was es dann doch nicht, aber ich fühlte mich doch sehr unwohl. (Passend dazu ist kurz, nachdem ich das Buch gelesen haben auf jetzt.de dieser tolle Artikel von Nhi Le erschienen: https://www.jetzt.de/the-female-gaze/the-female-gaze-in-filmen-werden-vergewaltigungen-zu-oft-banalisiert) Positiv fand ich, dass das Buch am Ende wieder zum Thema: Wie würde ich leben im Endzeitszenario zurückfindet? Fazit Ein spannendes Debüt, das interessante Fragen aufwirft. Nachdem ich vom sensiblen Umgang mit toxischem Verhalten zunächst sehr begeistert war, hält das Buch diese Klasse nicht ganz durch. Dennoch mochte ich das Buch und werde sicherlich nach der Autorin weiter Ausschau halten. 3,5 von 4 Sternen, die ich aufrunde. Für Teenager:innen finde ich es allerdings heikel.