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mrstrikehardt

Posted on 25.10.2020

Cemile Sahins im Feuilleton hochgelobte Debütroman stand weit oben auf meiner Leseliste. Nun mit Erscheinen des Taschenbuches griff ich zu und las die Geschichte innerhalb eines Tages. Es ist eine Geschichte der Selbstermächtigung. Nicht nur der Mutter, die den Verlust ihres Sohnes nicht akzeptieren will. Auch der Doppelgänger Polat Kaplan will sich mit dem Schicksal nicht abfinden und geht in der ihm zugeschriebenen Rolle auf und darüber hinaus. Selbst im Schweigen und dem Brechen des Schweigens der einstigen Verlobten Esra zeigt sich Mut und Stärke. Sie alle wollen ihren Platz in der Welt finden, obwohl die Welt für sie keinen Platz hat. Die Geschichte wird in erster Linie aus der Sicht von Polat erzählt. Seine Sprache ist direkt und roh. Manche Reflexionen lesen sich etwas sperrig und dadurch weniger authentisch. Aber geht es überhaupt um Authentizität? Womöglich kann niemand mehr authentisch sein. Die Dialoge zwischen „Mutter und Sohn“ erinnern an Selbstgespräche. Beide versichern sich, das Richtige zu tun, auch wenn es das Falsche ist. Das liest sich stellenweise heiter, aber das Skript folgt einer Logik, bei der sich Sichtweisen verengen, bis es zu spät ist. Das Lachen bleibt im Halse stecken. Beim erneuten Durchblättern bin ich an einer Stelle hängen geblieben. Da sagt der Einäugige (über den aus Spoiler-Gründen nichts Weiteres erzählt wird): „Jeder muss sich selbst retten.“ Tatsächlich lässt sich die Geschichte der Protagonisten wie einen Versuch lesen, diesen Ausspruch zu leben. Der Versuch ist ehrenwert, aber zu tragischem Scheitern verurteilt. Sie vergessen den Blick für den Anderen, das Gemeinsame. Vielleicht ist das auch unmöglich angesichts des Leids, das der Krieg ihnen gebracht hat.

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