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daslesendesatzzeichen

Posted on 21.10.2020

Eines der besten Bücher, die derzeit im Buchhandel erhältlich sind, ist das bereits vor einem Jahr erschienene „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber. Es ist ein derartiges Kleinod, dass ich es sage und schreibe zwei Monate lang, zu zwei Dritteln gelesen, habe liegen lassen, weil ich nicht aus der Geschichte raus wollte, weil ich Paula und Helmut nicht verlassen wollte und auch nicht ihre guten Geister Tim und Helga. Romane vertreiben einem die Zeit, sie vermitteln einem Wissen, sie lassen einen (vielleicht auch fremde) Emotionen empfinden, an ferne Orte reisen, sie können einen anrühren. Aber nur ganz, ganz wenige bieten einem neben guter Unterhaltung einen derartigen Mehrwert, dass man sie für immer mit sich herumtragen möchte. Zu diesen großartigen Würfen gehört dieser Roman. Der Plot klingt erst einmal gar nicht so, als müsse man das unbedingt lesen, denn eigentlich ist es schwere Kost, was da auf der U4 beschrieben wird, nichts wird verheimlicht oder beschönigt. Ohne zu spoilern, kann hier mitgeteilt werden, dass Tim und Helga tot sind – und dass die Tatsache, dass sie beide auf einem bestimmten Friedhof liegen, der Grund ist, dass Paula und Helmut sich kennenlernen. Paula und Helmut sind in Trauer – Paulas geliebter kleiner Bruder, der aufgrund des erheblichen Altersunterschieds (sie studiert schon, er ist ca. 10 Jahre alt) noch zu Hause lebt, als sie schon ausgezogen ist, stirbt unfassbarerweise im einzigen Familienurlaub, zu dem Paula nicht mitkommt – und das auch noch aus dem völlig banalen Grund, dass sie ein Konzert ihrer Lieblingsband nicht verpassen will. Ihr Bruder ertrinkt im Meer, eine Tatsache, die Paula gleichsam verstört wie auch froh macht – denn sie kann nicht fassen, dass er in diesem Element stirbt, das er so sehr liebte und so spannend fand aufgrund der wunderbaren darin enthaltenen Lebewesen. Wie kann ein Ort, der ihn so froh machte, ihm so etwas antun? Andererseits beruhigt es sie ein wenig, dass er eben genau dort starb, wo er immer so glücklich war. Als studierte Biologin ist Paula Zeit seines Lebens Tims perfekt informierte Quelle für Neuigkeiten über das Meer und seine Lebewesen. Immer quetscht er sie aus, ob es Neuentdeckungen gab und ob er auch noch darauf hoffen könne, irgendwann etwas Unbekanntes im Meer zu entdecken. Diese wunderbaren Unterhaltungen mit Tim fehlen Paula, und sie vermisst den kleinen Kerl mit jeder Faser ihres Körpers. Sie kann nicht mehr an ihrer Doktorarbeit schreiben, kann mit Freunden nichts anfangen, ist generell eher etwas einzelgängerisch, kann sich auch dem Psychologen nicht öffnen – kurz, sie steckt fest. Nicht mal zum Grab ihres Bruders kann sie gehen, zu real wäre dann, dass er wirklich tot ist. Eines Nachts fasst sie sich ein Herz und klettert über die Friedhofsmauer. Sie braucht die Ruhe, die Anonymität der Dunkelheit für diesen Gang – sie erträgt die Menschen nicht, die tagsüber laut und rücksichtslos an diesem Ort hantieren. Mit vielem hat sie gerechnet, aber nicht damit, jemanden dort anzutreffen. Doch da ist nicht nur ebenfalls zu dieser späten Stunde jemand auf dem Friedhof, sondern dieser Jemand buddelt auch noch eindeutig an einem Grab herum! Paula überfällt das kalte Grausen. Doch bei dem Versuch, leise zu fliehen, macht sie einen derartigen Lärm, dass der Fremde sie bemerkt. Es ist ein alter Herr – und er braucht Hilfe, denn die Friedhofsgärtner nahen. „Noch vierzig Zentimeter oder so, dann habe ich es!“, keuchte er. „Geben Sie mal her“, sagte ich, stellte die Leiter ab und nahm ihm den Spaten aus der Hand. Jetzt ist eh auch schon alles egal, dachte ich und begann zu graben. Ein Stich, noch ein Stich, noch ein Stich. Mein neuer Bekannter hatte sich schwer atmend gegen einen Grabstein gelehnt und wischte sich die Stirn. Die Stimmen kamen immer näher. Ich schaute auf die Inschrift des Grabsteins. Anscheinend buddelte ich hier eine Frau namens Helga aus. Plötzlich stieß der Spaten auf etwas Festes. „Das ist die Urne!“, flüsterte der alte Mann aufgeregt. Helmut, so heißt der alte Mann, und Paula freunden sich an, ganz, ganz langsam, denn die Umgänglichsten sind die beiden nicht, und auch nicht besonders in Übung, sich mit anderen zu arrangieren. Eigentlich will sie auch nur, dass er sie ein Stück weit mitnimmt in seinem Wohnmobil. Doch dann bleibt sie immer noch ein bisschen länger sitzen … Was Helmut und Paula machen, ist Trauerarbeit im besten Sinne. Sie versuchen, im Alltag wieder Fuß zu fassen, sie reden miteinander, schweigen, weinen, lachen. Sie erleben Neues – Dinge, die ihre geliebten Toten nicht mehr miterleben. Das fällt Paula anfangs nicht leicht, denn sie will ohne ihren Bruder eigentlich gar nicht weiterleben, nichts Neues sehen. Und diese Trauerarbeit ist so lustig, so schräg, so urkomisch – ohne jemals pietätlos zu werden. Man lacht und weint meist gleichzeitig. Das liegt zu einem Großteil an der 1988 geborenen Autorin, die eine so unglaubliche Lebensweisheit an den Tag legt und diese Weisheit in Worte packt, als wäre sie schon weit über 80! Dabei beherrscht sie jedoch einen unwahrscheinlich schnodderig-witzigen Stil, der den Protagonisten so wunderbare Dialoge zuschustert, dass man niederknien möchte. Und Janina Schreiber kann nicht nur schreiben, sie ist auch noch ehrenamtlich als Sterbebegleiterin und als Fotografin für Eltern von sogenannten Sternenkindern tätig, Kindern, die tot auf die Welt kommen oder sehr früh sterben. Sie ist also jemand, der nahe an den Trauernden dran ist, der den Tod kennt und begleitet. Kurzum, sie weiß, wovon sie redet. Sie findet immer den richtigen Ton, ihre Figuren sind nie zum Fremdschämen fröhlich oder merkwürdig, sondern jede einzelne Szene, die sie beschreibt, wirkt glaubhaft, möge sie auch noch so skurril anmuten. Beim erneuten Blättern durch die Seiten des Buches überkommt mich die ganz starke Sehnsucht nach Helmut, Paula, nach ihrem Weg aus der Trauer, der kein leichter ist, nach ihren Weggefährten, dem schrägen Hund Judy, der mit Karotte im Mund nur rückwärts gehen kann, nach Lutz, dem Huhn und, und, und … ich möchte sofort wieder loslegen, in die nächste Runde gehen, wieder eintauchen in ihr Universum. Das Schlimmste, was man über dieses Buch denken könnte, wäre: Das ist mir zu traurig/schwermütig, schwierig. Bitte nicht fehlleiten lassen, von den großen Themen Tod, Leben, Trauer, Sinn des Lebens. Dieses Buch macht einen nur auf EINE Weise schwermütig, nämlich auf die, dass man sich beim Verschlingen der Seiten immer mehr Sorgen macht, dass es bald zu Ende ist – und das macht einen in der Tat schwermütig. Ansonsten gibt es kaum ein aufbauenderes, positiveres, glücklich machenderes Buch als dieses! Gerade in diesen außergewöhnlichen Zeiten, in denen wir uns derzeit durch Corona befinden, brauchen wir jeden Glücksmoment doppelt und dreifach dringend. Hier bekommen die Leser unendlich viel Glück auf (leider nur) 252 Seiten.

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