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Im isländischen Raufarhöfn lebt Kalmann Óðinsson. Er ist etwas anders, schon seit seiner Geburt. Vermutlich laufen die Räder in seinem Kopf rückwärts, sagt er von sich selbst. Aber er kommt zurecht in seinem Haus, in der Dorfgemeinschaft. Von seinem Großvater hat er alles gelernt, was für das Leben am nördlichsten Zipfel Islands nötig ist. So wurde aus ihm ein Haifischjäger und Kalmanns Gammelhai wird fast so gut wie der seines Großvaters. Auch wenn er wie berufen ist für das Jagen und Schießen, begegnet Kalmann den Tieren an Land und zu Wasser mit Respekt, tötet nicht aus Vergnügen. Jetzt ist sein Großvater selbst pflegebedürftig und es gehört zu Kalmanns wöchentlicher Routine, den alten Mann im Heim zu besuchen. Routine ist ihm wichtig und das Einhalten von Abmachungen. Viel passiert nicht in dem abgeschiedenen Fischerdorf. „Am Ende der Welt links abbiegen!“, sagt Kalmanns Mutter über den Ort. Seit dem Deal mit den Fischereiquoten ist es still im Hafen, die Schule besteht nur mehr aus einer einzigen Klasse. Der Touristenstrom, für die der „Quotenkönig“ Róbert McKenzie ein Hotel und das Arctic Henge Monument errichten ließ, blieb aus. Doch dann ist eines Tages Róbert verschwunden und Kalmann findet eine große Blutlache im Schnee. „Denn Schnee ist Schnee, und Blut ist Blut. Und wenn einer spurlos verschwindet, ist das vor allem sein Problem.“ Hätte er nur über seine Entdeckung geschwiegen, überlegt Kalmann, denn damit fingen die Probleme an. Der Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt lebt schon seit etlichen Jahren mit seiner Familie in Island und hat seinen Roman „Kalmann“ auch dort angesiedelt. Der Kriminalfall Róbert McKenzie – denn dass der Hotelbesitzer wohl tot ist, wird schnell vermutet - ist der äußere Rahmen eines besonderen Romans. Schmidt lässt seinem Ich-Erzähler Kalmann sehr viel Gelegenheit über das Leben in Raufarhöfn zu berichten. Da gibt es diesen Mikrokosmos der Ortsgemeinschaft, in der Kalmann trotz seiner Besonderheit sehr gut zu Rande kommt. Als Kind hatte er es vielleicht etwas schwerer, lachte mit, wenn alle (über ihn) lachten, um nicht der einzige zu sein, der nicht lacht. Mit dem Lernen, dem Lesen und Rechnen da haperte es. Aber beim Lesen von Karten ist er unschlagbar. So kommt es auch dass er heute als selbsternannter Sheriff von Raufarhöfn durch den Ort patrouilliert, alle Ecken und Enden kennt, kleine Aufgaben übernimmt und sich wichtig fühlt. Auch mit seinem Boot auf dem Meer kennt er sich aus. Allein, er ist vergesslich: „…Und das ist eine meiner Schwächen. Ich kann wichtige Sachen einfach so vergessen. Vor allem, wenn ich aufs Meer fahre. Als würde das Meer alle Erinnerungen schlucken…“ Meiner Ansicht nach braucht Kalmann auch den Vergleich nicht zu Forrest Gump, der immer wieder ins Gespräch geführt, von Schmidt sogar selbst initiiert und von Kalmann zurückgewiesen wird. „Ich kann nicht schnell laufen und auch nicht Pingpong spielen und früher wusste ich nicht mal, was ein IQ ist.“ Für Schmidt war es wichtig, dass der Behinderung seines Protagonisten nicht allzu viel Bedeutung zu kommen soll. Wenn Kalmann nach außen auftritt wirkt er in seiner Denkweise oft wie ein Kind. Bei seinen inneren Monologen ist er reflektiert und klug. Es braucht keine Schublade, in die Kalmann zu stecken ist. Genauso wenig braucht der Roman eine Schublade der Genrezuteilung. Wer diesen Roman gerne als Krimi lesen möchte, steht nicht allein da. Schließlich findet man das Buch auf so mancher Krimibestenliste wieder. Ob Krimi oder nicht - so wie Kalmann immer zu sagen pflegt: „Kein Grund zur Sorge!“ Der unzuverlässige Erzähler Kalmann sorgt tatsächlich für genug spannende Momente. Seine besondere Sicht auf die Dinge aber auch seine Auslassungen - den Kalmann erzählt uns lange nicht alles, was ich im Übrigen für zutiefst menschlich und normal ansehen würde – erstaunen immer wieder aufs Neue.