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gwyn

Posted on 12.10.2020

Der Anfang: «Ich bin Krankenschwester. An ganz schlimmen Tagen schließe ich mich auf dem Stationsklo ein und sitze auf dem heruntergeklappten Deckel. Ich muss gar nicht, ich habe ohnehin seit Stunden nichts gegessen oder getrunken. Ich sitze nur da und starre auf meine weißen Stationsschuhe, an denen Spuren der letzten Stunden kleben: Urin, Kot, Desinfektionsmittel, Blut.» Endlich mal ein empathisches, sachliches Buch über den Pflegenotstand! Franziska Böhler arbeitet als Gesundheits- und Krankenpflegerin aus Überzeugung, schildert ihren Stationsalltag im Krankenhaus und macht deutlich, wie sehr Patienten und Personal unter profitorientierten Strukturen leiden. Aber leider wird hier wieder die veraltete Berufsbezeichnung Krankenschwester verwendet, schade. Das sind doch gar keine Nonnen mehr! Sie beschreibt, warum sie den Beruf wählte und warum sie ihn gern ausübt, trotz Dienste in ständiger Unterbesetzung, Bedingungen, die Pflege und Medizin gefährlich und unmenschlich machen, wie sehr dies dem Wohl der Patienten entgegensteht, wie sehr die eigene Gesundheit des medizinischen Personals darunter leidet. Viele Mitarbeiter hängen den Beruf an den Nagel. Nein, ein Krankenhaus wie bei Schwester Betty gibt es nicht in der Realität! «Immer öfter werden die Rettungskräfte zu Einsätzen in stationären Pflegeeinrichtungen angefordert. Insgesamt wurde die Berliner Feuerwehr ihren Angaben zufolge 15.675-mal zwischen September 2018 und August 2019 zu solchen Einsätzen gerufen … ‹Der Klassiker ist, wir werden gerufen, weil ein Patient aus dem Bett gefallen ist … im Dienst nur eine Pflegekraft. Die schafft es alleine nicht einen älteren Menschen mit 100 Kilo zurück ins Bett zu heben.» Fallgeschichten aus ihrem Arbeitsalltag, Berichte über das hektische Leben auf der Station. Franziska Böhler spricht nicht nur über sich, sie setzt sich inhaltlich mit den gesamten Pflegeberufen auseinander und schildert, was gerade schiefläuft. Vom Notdienst über Ärzte. Wer will heute noch Hebamme werden? Niemand – aber am Beruf liegt es nicht. Warum gibt es nur noch so wenig Geburtenstationen in den Krankenhäusern, obwohl viel mehr Kinder geboren werden? Warum gibt es so wenig Kinderabteilungen in Krankenhäusern, so wenig Kinderintensivbetten? Nicht weil die Kinder gesünder geworden sind, sondern, weil diese Abteilungen nicht genug Geld einfahren. Das Krankenhaus, das Pflegeheim – heute ein Unternehmen, oft zugehörig zu einer Aktiengesellschaft, die Gewinn bringen muss, um die Aktionäre zu befriedigen. Können wir so die Pflege gestalten? Einsparung an Personal und Ressourcen, um Geld zu scheffeln? Immerhin gibt es nun ein Gesetz, das verbietet, zu wenig Personal auf Station zu haben (absolutes Limit). Das wiederum zieht nun die Schließung von Betten nach sich. Das Krankenhaus hat zu wenig Personal, sperrt Betten, die ja vorhanden wären, meldet der Notzentrale keinen Patienten mehr aufnehmen zu können. Die Krankenwagen dürfen diese Krankenhäuser nicht mehr anfahren, müssen mit den Notpatienten weit ins Land hinausfahren. Wer direkt in die Notaufnahme geht, wird selbstverständlich aufgenommen. Gebärende, Kinder, Notfälle, Patienten, die heute weite Wege aufnehmen müssen, um behandelt zu werden. Das kann gefährlich werden. «An den schlimmen Tagen bin ich mein eigener Verräter. Denn dann bin ich nicht mehr die, die ich mal sein wollte.» Franziska Böhler hat mit Hilfe von Jarka Kubsova ein starkes Sachbuch hingelegt. Hier wird berichtet, nach innen und außen geschaut, sachlich, natürlich mit einer passenden Emotionalität. Ich hatte bereits zwei andere Bücher aus dem Pflegebereich hier vorgestellt, von denen ich maßlos enttäuscht war. Das eine ein Jammerbuch aus der Altenpflege, von einem der nur stöhnt, dass er das alles nicht schafft, seit seiner Ausbildung überfordert ist, aber weder die Zusammenhänge noch Lösungsvorschläge parat hat, sich völlig distanzlos sich durchs Buch weint. Das andere Buch, von einem jungen Assistenzarzt verfasst, macht sich lustig über nervende Patienten und faules, unwilliges Krankenhauspersonal, verpasst den beschriebenen Menschen üble Spitznamen – zynischer und arroganter geht es nicht mehr. Zwei Personen, die für mich nichts in medizinischen Berufen zu suchen haben. – Franziska Böhler legt offen, an welchen Stellen sich schleunigst etwas verändern muss. Sie zeigt Wege, die zu gehen sind, damit das System nicht kollabiert – eigentlich ist es das schon. Wir haben es engagierten Menschen wie Franziska Böhler zu verdanken, dass die Pflege noch halbwegs funktioniert. Sie sind keine Helden, sie machen nur ihren Job – das allerdings oft bis zum Rande der Erschöpfung. Mehr Personal und bessere Bezahlung können diese Berufe aufwerten. Es ist schön, wenn Menschen ihren «Heden» zujubeln, aber das hilft letztendlich nicht weiter. Wir müssen uns dafür einsetzen, sämtliche sozialen Berufe aufzuwerten! Mir hat auch gefallen, dass Franziska Böhler das System erkannt hat und sich nicht mehr von ihm durch den Gang schleifen lässt, auffordert, es mit ihr zu tun. Ich habe beruflich viel mit Menschen aus Pflegeberufen zu tun gehabt und habe versucht, meine Klienten zum Neinsagen zu animieren. Nein zu Doppelschichten und Nein zu Fließbandarbeit. Wer vor mir sitzt, 32 oder 36 Tage gearbeitet hat, ohne einen Tag frei zu haben, dem sieht man das an. Nein, man ist kein Kollegenschwein, wenn das nicht mehr mitmacht! Ja, man unterstützt nur das verdammte System, mit wenig Aufwand weiterzumachen! De Autorin macht hier nicht mehr mit. Ein feines Buch für jeden, der etwas über den Klinikalltag erfahren möchte und wie es um das Gesundheitssystem in Deutschland steht. Die Betroffenheit schwingt mit, aber mit Ziel, dies zum Besseren verändern zu wollen. «Ich fühle mich gefordert in meinem Beruf. Maximal kognitiv, intellektuell, zwischenmenschlich. Und das ist es, was ich daran so mag. Ich muss Leistung erbringen und mich engagieren und sehe, wenn das Früchte trägt. Weil ich richtig beobachte, kombiniere und die richtigen Schritte in die Wege leite. Wenn ich Anatomie und Physiologie und klinisches Erscheinungsbild meines Patienten kombinieren kann und in der Lage bin eine Diagnose abzuleiten, dann erfüllt mich das.» Franziska Böhler arbeitet seit 2007 als Gesundheits- und Krankenpflegerin auf einer anästhesiologischen Intensivstation in der Nähe von Frankfurt am Main und seit 2018 zusätzlich in der Anästhesie. Als @thefabulousfranzi hat die 32-jährige Mutter von zwei Kindern über 150.000 Follower auf Instagram, wo sie regelmäßig von dramatischen Geschichten aus dem Klinikalltag berichtet und auf den Pflegenotstand aufmerksam macht. Jarka Kubsova machte 1997 das Examen zur Krankenschwester, beschloss aber, vom System desillusioniert, schon bald darauf, einen anderen Beruf zu ergreifen. Sie studierte in Hamburg Soziologie und Sozialökonomie. Nach einem Volontariat bei der »Financial Times Deutschland« war sie dort als Reporterin tätig, sowie später beim »Stern« und bei der »ZEIT«. Sie ist Ghostwriterin mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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