stephanienicol
“Eins” erzählt die Geschichte von Grace und Tippi. Zwei Schwestern, die gemeinsam eins bilden. Denn die beiden sind siamesische Zwillinge und von ihrer Geburt an immer in Gesellschaft der jeweils anderen. Trotzdem haben beide unterschiedliche Charaktere, verschiedene Gefühle und sind sich auch nicht immer einig, auch wenn sie so oft als eine Einheit “funktionieren”. Allein optisch ist dieses Buch ein absoluter Hingucker. Die leuchtenden Farben auf dem weißen Hintergrund. Ein eigentlich schlichtes, aber sehr wirkungsvolles und absolut passendes Cover. Ein durchsichtiger, bedruckter Schutzumschlag, welcher erst in Verbindung mit dem bedruckten Leineneinband eins ergibt. Als ich die erste Seite aufgeschlagen habe, war ich kurzzeitig verwirrt. Denn statt einem Volltext erwartete mich ein recht ungewöhnlicher Schreibstil. Die gesamte Handlung wird nicht nur in Ich-Form erzählt – aus der Sicht von Grace – sondern ist in Form von Gedichten gehalten. Klingt vielleicht zunächst eigenartig, aber sobald man das Format ignoriert und einfach hintereinander liest, kommt man sehr schnell in den normalen Lesefluss rein, zumal sich die einzelnen Verse auch niemals reimen. Vielmehr wird man von der allerersten Seite an so sehr in den Bann dieser Geschichte gezogen, dass man gar nicht erst groß auf den Schreibstil achtet. “Ja, stimmt, nicht jeder ist ein Arschloch”, meint Tippi. “Aber in unserer Gegenwart verwandelt sich jeder in eins.” – Seite 15 So saß ich auch lesend im Bett, in der einen Hand das Buch haltend, mit der anderen Hand wurden im Sekundentakt die Seiten umgeblättert. Ansonsten war ich so gefesselt von dem Buch, dass ich mich in den knapp drei Stunden, in denen ich das Buch gelesen habe, absolut gar nicht bewegt habe – außer eben beim Seiten-Umblättern. Am Ende tat mir der Nacken weh, meine Beine waren eingeschlafen und ich war absolut geflasht – anders kann man das nicht nennen. Ich war zwar von vorneherein neugierig auf diesen Roman, hätte aber niemals gedacht, dass dieser mich so begeistern könnte. Zumal ich von Sarah Crossan so etwas nicht erwartet hatte, auch wenn ich beide Breathe-Dystopien mochte. Aber diese Bücher und “Eins” sind einfach zwei komplett unterschiedliche Welten und Schreibstile. Absolut umwerfend. Es fällt mir zugegebenermaßen immer sehr schwer, bei solchen umwerfenden Geschichten die richtigen Worte zu finden. Dass die Geschichte von Tippi und Grace sehr außergewöhnlich ist, dürfte wohl selbstverständlich sein. Und dass die Autorin im Vorfeld sehr genau recherchiert hat, merkt man auch. Die Gefühle der Schwestern, aber auch die der Eltern wirken sehr authentisch und so kann man sich das Leben von Tippi und Grace sehr gut und auch bildhaft vorstellen. Das ist teilweise natürlich auch ein etwas härterer Brocken, wenn man sich mal bewusst macht, was so manches heißt. Wie glücklich man sich schätzen kann, gesund zu sein. Gerade eine Stelle ist mir sehr im Gedächtnis geblieben: die Zwillinge beobachten ein Mädchen, welches über den schlechten WLAN-Empfang klagt und es als Alptraum bezeichnet. Es ist wirklich erschreckend, welche “Sorgen” man hat, wenn man sich eigentlich glücklich schätzen. Aber das ist eben die Realität und ich nehme mich davon auch nicht aus. Das ist auch nicht der Punkt dieser Geschichte. Vielmehr öffnet sie wenigstens für eine kurze Zeit einem die Augen. Und das Faszinierendste für mich war eher die Einstellung der Schwestern. Sie bemitleiden sich nicht gegenseitig, sondern sind vielmehr froh, dass sie bereits 16 Jahre lang leben konnten, obwohl sie bei der Geburt eine erwartete Überlebenschance von zwei Jahren hatten. Erschreckend sind die Reaktionen fremder Menschen, welche auch beschrieben werden. Erschreckend, wenn auch nicht sonderlich überraschend. Doch es gibt glücklicherweise auch sehr viele unterhaltsame Szenen, so dass man auch schon mal lachen muss. Mit einem Auge lachend, mit dem anderen Auge weinend – so lässt es sich wohl am treffendsten beschreiben. Im allerersten Monat eines der Lesehighlights des Jahres zu finden, ist vielleicht etwas optimistisch und wahrscheinlich auch sehr gewagt. Aber “Eins” wird mir ganz sicher lange im Gedächtnis bleiben und es hat mich so sehr gefesselt, berührt, geflasht, dass es ganz, ganz sicher noch in zwölf Monaten unter die Lieblingsbücher 2016 kommt. Ehrlich. Und jetzt ganz schlich: lest das Buch!