stephanienicol
In diesem erzählt Dicker – oder eher sein Protagonist Marcus Goldman, der Schriftsteller – die Geschichte seiner Familie. Es gibt nämlich zwei Goldman-Familien: die Goldmans aus Montclair – das wäre Marcus mit seinen Eltern – und die Goldmans aus Baltimore. Die Baltimores bestehen aus Marcus‘ Onkel Saul, Tante Anita und den Cousins Hillel und Woody. Und schon immer waren die Baltimores angesehener, besser, reicher und glücklicher als die Montclairs. So wollte Marcus bereits als Kind immer lieber ein Teil der Baltimores sein, als ein Teil der Montclairs. Doch alles änderte sich mit der Katastrophe. Jetzt liegt es an Marcus, die Geschichte der Baltimores zu erzählen. Mit „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ habe ich den Autor ja erst vor sehr kurzem für mich entdeckt – tatsächlich lag beim Lesen des ersten Romans auch schon dieser bereit. Und so musste ich glücklicherweise nicht sehnsüchtig monatelang auf eine neue Geschichte warten, sondern konnte direkt weiterlesen und mich erneut in den wunderbaren Schreibstil von Dicker verlieben. »Wenn Sie dieses Buch in die Hände bekommen, dann lesen Sie es, bitte. Ich möchte, dass jemand die Geschichte der Goldmans aus Baltimore kennt.« – Seite 6 Auch hier treffen wir wieder auf den Protagonisten Marcus Goldman, den wir bereits in „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ beim Schreiben seines Romans begleitet haben. Diese Geschichte spielt natürlich nach den Ereignissen im letzten Roman und Goldman schreibt nun seinen nächsten Roman. Die Handlung baut also zwar durchaus auf dem ersten Roman auf, allerdings kann man diesen Roman beruhigt lesen, ohne den ersten zu kennen – auch wenn sich das Lesen des ersten überaus lohnt! Ich bin mir aber sicher, dass ich diese Geschichte mindestens genauso gern gelesen hätte, wenn ich die vorherige nicht gekannt hätte. Der große Unterschied dieser Geschichte zur vorherigen ist, dass es diesmal keinen Mordfall zu lösen gibt. Insofern ist diese Handlung nicht unbedingt durchgehend voller Spannung. Allerdings konnte mich Dicker mit der Geschichte seiner Jugend trotzdem zu genüge fesseln, es ist eben nur eine andere Art von Spannung. Es ist die Geschichte beider Familien, die mich mitreißen konnte, da sie so lebendig und authentisch erzählt wird. Die gesamte Geschichte läuft allerdings auf einen großen Höhepunkt hinaus: die Katastrophe. Irgendetwas ist zu einem bestimmten Zeitpunkt geschehen, das Marcus‘ Leben geprägt hat und die Familie Goldman unwiderruflich zerstört hat. Doch bevor man als Leser erfährt, was es mit dieser Katastrophe auf sich hat, lernt man das Leben der Montclairs und Baltimores kennen. Vor allen Dingen das der Baltimores. Und insbesondere die Ereignisse um die „Goldman-Gang“, bestehend aus den drei Cousins Marcus, Hillel und Woody, habe ich unheimlich gerne gelesen. Goldman erzählt von seinen Ferien mit der Goldman-Gang, von den Erlebnissen und man hat als Leser das Gefühl, selbst ein Teil dieser Gang zu sein. Diese spezielle jugendliche Freude am Leben ist deutlich spürbar, genauso wie die warme Meeresluft in den Hamptons. »Ich erinnere mich an eine lange Reihe immer gleicher Tage, über denen der Duft der Unsterblichkeit schwebte. Was wir dort machten? Wir lebten unsere triumphale Jugend.« – Seite 39 Der Großteil der Handlung spielt sich innerhalb dieser Rückblicke und Einblicke in die Vergangenheit ab, schließlich erzählen diese die Geschichte der Baltimores. Doch auch die kleine nebensächliche Handlung in Marcus‘ Gegenwart mochte ich ganz gerne. Insgesamt ist es eben wieder eine sehr interessante Mischung aus verschiedenen Orten, Perspektiven und Charakteren. Gerade die Charakterzeichnung gelingt Dicker wieder einmal ausgezeichnet. Auch die gesamte Entwicklung und letztendlich auch die „Auflösung“ um die Ereignisse der Katastrophe konnten mich überzeugen, sogar überraschen. Diese kleinen Überraschungseffekte kann der Autor definitiv gelungen in seine Geschichten einbringen und dazu braucht es gar nicht mal einen aufwendigen Mordfall oder eine Krimi-Stimmung, wie es in seinem letzten Roman der Fall war. »Träume und träume groß! Nur die größten Träume überdauern. Die anderen werden vom Regen fortgespült und vom Wind verweht.« – Seite 264 Durch „Die Geschichte der Baltimores“ habe ich mich noch ein kleines bisschen mehr in Dickers Schreibstil verliebt. Obwohl er diesmal eine etwas ruhigere Geschichte erzählt, ist es trotzdem eine überaus interessante Geschichte über eine Familie, in der nicht alles so ist, wie es scheint, aber auch eine Geschichte über eine alles überdauernde Freundschaft. Die Goldmans aus Baltimore sollte man unbedingt selbst kennen lernen.