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gwyn

Posted on 10.10.2020

«Ehre wem Ehre gebührt: Unser erstes Wort lautet daher ‹Gehirn›. Ein Organ, das Ihnen lieb und teuer ist und das Sie gern besser kennenlernen würden. Leider behindert eine Fachsprache, bei der Sie eher Bahnhof als Gehirn verstehen, häufig den Zugang, weshalb Sie nicht selten den Eindruck haben, eine fremde Sprache zu hören.» Eins ist uns klar: Ohne Gehirn geht gar nichts. Ohne Gehirn können wir unseren Körper nicht steuern, schon gar nicht können wir denken. Hirntod = tot? Aus dem Verlust des Bewusstseins, an dem letztlich alles hängt, was wir dem Menschsein zuschreiben, lässt sich eine Todesdefinition heranziehen. – Es gibt hierzu andere Meinungen, die ich selbstverständlich respektiere. Aber was genau ist Funktion der grauen Masse in unseren Köpfen, wie funktioniert das System? In diesem Sachbuch finden wir endlich unkomplizierte Erklärungen zur Neurowissenschaft – wirklich verständlich für jedermann, dazu noch unterhaltsam formuliert. «Doch nicht nur die Neuronen selbst kommunizieren untereinander, sie ermöglichen durch ihre Kommunikation auch allerlei andere Prozesse, die nicht stattfinden könnten, wenn die Neuronen voneinander isoliert wären.» Der französische Hirnforscher Lionel Naccache hat zusammen mit seiner Frau, der Romanautorin Karine Naccache in 35 Kapiteln das Wichtigste zusammengefasst. Es beginnt mit den Rohstoffen, Molekülen und Gehirnzellen: Neuronen kommunizieren miteinander durch Synapsen, die Gliazellen sind der «Kitt, der Klebstoff» zwischen den Neuronen, sie sind für die Aufnahme von Sauerstoff und Nährstoffen zuständig, entsorgen den Abfall, legen sich um die Neuronen, um sie zu wärmen, umhüllen und isolieren behutsam die Axone, die langen Schwänze der Neuronen, die zu ihrer Kommunikation untereinander dienen. Die Gliazelle ist also ein echtes Muttertier. Unter dem Kapitel «Stoff und Inhalt» lernen wir das «Seepferdchen» kennen – benannt nach seiner Form, den Hippocampus, der in beiden Hemisphären zu finden ist. Die beiden beide Hippocampi transportieren Erinnerungen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Sind die Seepferdchen zerstört oder stark beschädigt, können keine neuen Erinnerungen mehr abgespeichert werden, die alten bleiben erhalten. Manch einer hat ein Brett vor dem Kopf, aber einen Balken haben wir alle im Gehirn. Der trennt die Hemisphären, die beiden Gehirnhälften. Wir besitzen zwei verschiedene Bewusstseine! Eins drückt sich über die Sprache aus, meist links – die rechte Hälfte ist u. a. für die Ausbildung von Kritikfähigkeit zuständig. Früher hat man per OP bei manchen Patienten den Balken entfernt, was zu seltsamen Dingen führte: «Bei Split-Brain Patienten führte diese Koexistenz von zwei getrennten Bewusstseinen mitunter sogar zu einem mehr oder wenigerdeutlich offenen Konflikt: Beispielsweise kann die rechte Hand des Patienten – gesteuert von der linken Hemisphäre – eine Kühlschranktür öffnen, während seine linke Hand – gesteuert von der rechten Hemisphäre – dieselbe Tür schließt. Sturm unter der Schädeldecke.» Wir erfahren etwas über den visuellen Cortex – unsere komplexe visuelle Wahrnehmung. Während wir uns bewegen, nehmen wir nicht nur das Gegenüber ins Visir, sondern wir checken das rundherum unbewusst mit ab. Ganz hinten im Hirn, weit weg von den Augen, spielt sich unser Sehen ab. Die eine Bahn nennt sich die «Was-Bahn» – Was steht mir gegenüber? Das Hirn ordnet das Gegenüber genau zu. Parallel betratet die Dorsalbahn das Wie. Die Dorsalbahn, die «Wie-Bahn» erfasst die Bewegung. Hier nennen die Autoren ein Beispiel: Hastet ein Tennisspieler einem Schmetterball hinterher und entdeckt in letzter Sekunde ein Hundehäufchen, dem er mit einem versetzten Schritt ausweicht, so ist dies die Arbeit der Dorsalbahn gewesen. Am Ende gibt es eine kurze Erklärung zum Belohnungssystem des Menschen, das ihn antreibt, seine Sehnsüchte weckt. Ist dieses System zerstört, wird der Mensch völlig apathisch, es kommt zu einem völligen Antriebsverlust. Es gibt in diesem kleinen Buch eine Menge zu entdecken, verständlich geschrieben, mit Anekdoten angereichert. Lionel Naccache ist einer der prominentesten französischen Neurowissenschaftler. Er forscht am renommierten Nervenkrankenhaus Hôpital Universitaire Pitié Salpêtrière und unterrichtet als Professor für Medizin an der Universität Paris VI. Karine Naccache, geb. 1970, ist eine französische Schriftstellerin und Romanautorin.

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