Antonie
Es ist eine höchst komplexe Erzählung, die sich mit fortschreitender Handlung vor dem Leser entblättert. Man wird von ihr an der Hand genommen und (zum Glück!) setzt sie keinerlei fundiertes Vorwissen für die vorherrschenden Thematiken wie z.B. Hirnforschung oder Zeitreisen voraus.Blake Crouch lässt zwar tief und zum Teil auch sehr detailliert in diese Materie blicken, allerdings verliert man nicht den roten Faden der Geschichte, wenn man gedanklich nicht mitkommt oder die Ausführungen nicht komplett versteht. Wir erleben zwei Perspektiven: Einmal die Sichtweise von Helena Smith, einer Hirnforscherin. Sie möchte für ihre demenzkranke Mutter einen Vorrichtung bauen, mit deren Hilfe sie die Erinnerungen ihrer Mutter konservieren und abrufbar machen möchte. Dies als Vorsorge für die Zeit in einigen Jahren, wenn ihr Gedächtnis schwindet und damit die Person, die ihre Mutter einst war … mit all ihren Erinnerungen. Auf der anderen Seite haben wir Detective Barry Sutton, der einem Phänomen auf der Spur ist, welches den Menschen falsche Erinnerungen an vermeintlich nie existierende Leben einpflanzt und so in den Wahnsinn bzw. schlussendlich in den Selbstmord treibt. Beide Charaktere wuchsen mir im Laufe der Handlung immer mehr ans Herz, wohl auch, weil Helena und Barry unfassbar viel Leid auf ihrer Reise erlebten und sie ab einem gewissen Zeitpunkt nur noch darum kämpften, nicht im Sumpf der Ereignisse unterzugehen. Auch wenn sich hier eine Liebesgeschichte langsam zur Mitte des Buches hin anbahnte, trat diese nie zu stark in den Vordergrund, sondern verwebte sich ganz zart mit der Geschichte und hat mich gegen Ende fast zu Tränen gerührt ... Hier zeigte Blake Crouch sein ganzes schriftstellerisches Können und erzeugte mit vielen Sätzen, die sehr fein pointiert waren, eine dicke Gänsehaut bei mir. Zu viel über die Handlung und deren viele Wendungen möchte ich gar nicht erzählen, denn das würde den zukünftigen Lesern einiges vorwegnehmen und das Leseerlebnis nur halb so spannend und überraschend machen. Hier jedenfalls Hut ab vor dem Autor, denn bei so vielen Zeitsträngen, Sprüngen in den verschiedenen Erlebnissen hin und her, hätte ich eher erwartet, dass ich irgendwann gedanklich aussteige, mich verfranse und nicht mehr mitkomme. Aber nein, hier ist stets der rote Faden zu erkennen, auch wenn er sich zwischenzeitlich in viele feine Fäden auflöst, nur um gegen Ende sich wieder zusammen zu fügen und so einen fulminanten Schluss zu generieren. Und genau dieses letzte Drittes von „Gestohlene Erinnerungen“ hat es wirklich in sich: Es kommt mit einer Brutalität und Wucht über den Leser, dass ich nicht selten schlucken musste, das Gelesene sacken lassen wollte und mich doch getrieben sah weiterzulesen, denn es war einfach zu spannend, um längere Pausen einzulegen. Manche Szenen und Beschreibungen waren mir zu detailreich und ließen kaum Platz für eigene Interpretationen und befeuerte mein Kopfkino mit vielen eindringlichen Bildern. Die Atmosphäre war dort zum Reißen gespannt, düster und hoffnungslos. Und doch passte sie so perfekt zu der Handlung, denn diese zeigte hier die dunkle, grausame Seite von uns Menschen und was passiert, wenn wir zu viel zerstörerische Macht in den Händen halten. Dass diese Ausführungen nicht friedlich und harmlos daherkommen können, war nur eine logische Konsequenz des Geschriebenen und dennoch hätte ich gerne gewusst was da auf mich zukommt, was natürlich nicht möglich war. Also seid gewarnt, diese letzten 150 Seiten werden euch das Blut in den Adern gefrieren lassen, euch den Atem rauben und emotional fordern, ohne Rücksicht auf Verluste. Mein Fazit: Ich hoffe, diese Rezension hat einen guten Einblick in eines meiner Jahreshighlights 2020 gegeben, ohne zu viel zu verraten und euch den Mund wässrig zu machen. Es lohnt sich sehr, einen näheren Blick in das neue Buch von Blake Crouch zu werfen, aber vorsichtig, der Schreibstil und die Geschichte versuchen jeden gnadenlos zwischen seine Seiten zu ziehen, die es einmal gewagt haben, damit zu beginnen. Ich vergebe ~*5 ( von 5 ) Sterne*~