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Babscha

Posted on 8.10.2020

Johannes Hosea Stärckle heißt der Icherzähler dieses großartigen Romans, ein Name, so ausgefallen wie der ganze Typ. Kein schlechter, abzulehnender Zeitgenosse, sondern, wie sich letztlich zeigt, auch nur ein Getriebener, den die Erfahrungen seiner trostlosen Kindheit und Jugend zu dem gemacht haben, was er heute ist. Er stottert, stark und schon immer, und hat die üblichen Begleiterscheinungen wie Ausgrenzung, Demütigung und Mobbing bereits lange hinter sich. Seine Waffen sind sein scharfer Verstand, seine Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und seine im Laufe langer Jahre zur Perfektion gereifte literarische Ausdrucksfähigkeit, mittels derer er Menschen nach Belieben manipulieren kann. Und genau dies hat ihn trotz genialen Plans mit leider leicht schlampiger Umsetzung letztlich in den Knast gebracht, wo er bereits ein Jahr hinter sich und weitere zweieinhalb noch vor sich hat in der Hoffnung, sie möglichst unbeschadet zu überstehen. Wie wir erfahren, ist der Gefängnispfarrer, den er Padre nennt und dessen wöchentliche Resozialisierungssitzungen für Gottes gescheiterte Schäfchen er regelmäßig besucht, seine Hauptkontaktperson im Gefängnisalltag. Mit diesem hat er einen Deal geschlossen, den er selbst Duell nennt, nämlich, dem Padre für die Beschaffung eines Jobs in der Knastbücherei sein ganzes Leben zu erzählen, quasi als Studienobjekt für das Gelingen seiner Bekehrungsbemühungen. Und so erfahren wir dann Stück für Stück von seinem Aufwachsen in einem lieblosen Elternhaus mit brutalen, durchgeknallten Eltern, die dem Anführer einer frömmelnden Sekte im Dorf restlos verfallen sind, von biblischer Bestrafung seiner sprachlichen Unzulänglichkeit durch dieses Individuum und wie er sich später genauso biblisch-unerbittlich an ihm (wie auch an anderen, die ihn gequält und drangsaliert haben) rächt. Es ist grandios zu lesen, wie der Protagonist, der dem Pfarrer und so ziemlich allen anderen in der JVA intellektuell haushoch überlegen ist, aus seiner in frühen Jahren wahrlich eingepeitschten Kenntnis der Heiligen Schrift heraus im Laufe der Geschichte den betroffenen Mitwirkenden (und natürlich dem Leser) für jede berichtete Verfehlung und menschliche Unzulänglichkeit ein passendes, zumeist alttestamentarisches Bibelzitat vor den Latz zu knallen und dieses dann gleichzeitig mit einem passenden Schopenhauer-Zitat zu konterkarieren weiß. So geht Sensibilisierung für kritisches Hinterfragen jahrhundertealter Dogmen! Der Leser wird regelrecht hinein gezogen in einen bunten, ständig wechselnden Reigen voller Überraschungen und Wendungen aus Knasterlebnissen, Rückblenden, Phantasien, Bekenntnissen und Rechtfertigungen, alles aus der ureigensten Sicht des Erzählers, der, je mehr man über ihn erfährt, bis zum Schluss eine derartig vielschichtig angelegte, komplizierte und auch bedauernswerte Figur bleibt, dass man während der gesamten Lektüre unschlüssig ist, welche innere Haltung man ihm gegenüber denn jetzt endlich einnehmen sollte. Ein aus meiner Sicht brillant geschriebenes, überzeugendes Lesehighlight, in seiner Außergewöhnlichkeit auf dem Niveau des Romans „Andersen“ vom gleichen Autor.

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