bibliophiler_booknerd
"Herzfaden" ist eine besondere Geschichte, die mit zwei sich gegenüberstehenden Generationen arbeitet. Mit zwei Menschen, ein junges Mädchen, der heutigen Zeit, deren Eltern geschieden sind, Puppentheater kindisch findet und für die eine halbe Welt untergeht, weil sie nicht bei ihrem Vater sein möchte. Im ganzen Verlauf der Geschichte bekommt sie zu keinem Zeitpunkt einen konkreten Namen, sodass sich jeder selbst angesprochen fühlen kann. Ihr Gegenüber steht Hätu, die als junges Mädchen in der Zeit des Nazi Regimes aufgewachsen ist, ihren Schauspieler von Vater in den Krieg ziehen sieht, Ängste aussteht und mit den Geschehnissen ihrer Zeit konfrontiert wird. Der Leser verfolgt zunächst ein Mädchen (rote Schrift) bis sie auf Hatü trifft und eine Gesprächssituation aufgebaut wird, in der Hatü von ihrem Leben als Mädchen, junge Frau, Mutter, Marionettenspielerin und - schnitzerin erzählt (blaue Schrift). Dieser Farbwechsel erinnert mich sehr stark an "Die unendliche Geschichte" von Michael Ende. Der ebenfalls zum Ende hin einen kleinen Gastauftritt wie viele andere Leute und Figuren wie Prinzessin Li Si, der kleine Prinz, der Kasperle oder Jim Knopf bekommt. Das "Vorgeplänkel" fand ich am Anfang ein bisschen zäh und ich habe ein paar Seiten zum Reinkommen gebraucht, aber dann entwickelt sich irgendwie eine Sogwirkung. Das NS Regime, die Nachkriegszeit, das alltägliche Leben eines Mädchens, das eigentlich gar nicht versteht, was abläuft und Marionetten. Es ist so gegensätzlich, aber trotzdem kann mich Hatü irgendwie verzaubern und mitnehmen. Mir kommen die Sorgen des Mädchens gegenüber Hatüs Leben zur Zeit des 2. WK und der Nachkriegszeit fast schon nichtig, gar bedeutungslos vor. Als seien ihre Sorgen und Probleme weniger wert oder einfach weniger wichtig. Ob ich den Schreibstil als angenehm empfinde, muss ich leider eher bestreiten. Er ist schwerfällig und wirft mich an manchen Stellen eindeutig aus der Geschichte raus, trotzdem hat er etwas, dass ich dennoch dranbleibe und erfahren möchte wie es mit Hatü weitergeht, wie sich der Krieg und ihre Liebe zu den Marionetten auf ihr Leben auswirken. Auch die Rolle ihres Vaters finde ich hochinteressant und er gehört auf jeden Fall zu einem meiner liebsten Charaktere in der Geschichte. Ich finde es sehr schwierig die Stimmung der Geschichte zu beschreiben. Es balanciert zwischen einer gewissen launenhaften Leichtigkeit und einer schweren harten Düsternis, die die ernste Thematik des Nationalsozialismus, Krieg und der Judenverfolgung mit sich bringt. Alles betrachtet aus der Sicht eines zehn Jahre alten Mädchens, die nur am Rande mitbekommt, was abläuft, aber auch langsam älter wird und beginnt sich mit Vergangenem zu beschäftigen und zu hinterfragen. Vieles begreift sie natürlich nicht im ganzen Umfang, woran viele, auch ältere, reifere und erwachsendere Menschen, sogar noch heute scheitern. Im Zusammenhang mit den Marionetten liebe ich es ebenfalls auf alte Bekannte wie Lucas, Emma, Jim Knopf, Hänsel und Gretel, der kleine Prinz, etc. zu treffen. Um ehrlich zu sein hatte ich zuvor keinen Bezug zur Augsburger Puppenkiste, natürlich habe ich schon davon gehört, aber seit ich klein bin, habe ich große Angst vor Puppen und Marionetten. Erst nach und nach wurde mir bewusst, dass Hatü nicht nur ein fiktiver Charakter ist, sondern eine reale Persönlichkeit war, die von 1931-2003 gelebt hat. An dieser Stelle kann ich natürlich nicht beurteilen, ob wirklich alles so geschehen ist wie geschildert wird oder ob sich der Autor auch ein paar künstlerische Freiheiten genommen hat, dafür weiß ich einfach zu wenig über Hannelore und ihre Geschichte, aber im Nachwort räumt sich der Autor einen gewissen Freiraum ein. Insgesamt ist "Herzfaden" eine besondere Geschichte, ein Gespräch zwischen Generationen, die durch ihre Zeit nicht unterschiedlicher sein könnten. Eine Geschichte, die auf einer wahren Persönlichkeit beruht, eine interessante Geschichte unterlegt mit weiteren Geschichten, Theaterstücken und Figuren. Der Umfang ist perfekt gewählt worden und noch mehr Seiten hätten natürlich mehr Platz für mehr Ausschnitte aus Hatüs Leben geboten, jedoch fand ich die Ausschnitte auch sehr faszinierend und interessant. Manche Stellen fand ich ein wenig unverständlich für Leute, die keinen direkten Bezug zur Zeit haben. Ich habe gemerkt, dass etwas angedeutet wurde, aber leider muss ich gestehen, dass ich sie an manchen Stellen einfach nicht verstanden habe. Um ehrlich zu sein weiß ich gar nicht wie ich den Roman bewerten soll. Manche Szenen waren sehr zäh und langatmig, andere waren im historischen Kontext hochinteressant, wieder andere Stellen perlen wie frisches Wasser auf meinen Lippen und ich wollte nicht aufhören zu lesen. Am liebsten würde ich keine Bewertung vergeben, aber wenn ich müsste, würde ich mich irgendwo bei 3,5 Sterne einpendeln.