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wandanoir

Posted on 29.9.2020

Mit Witz. Weisheit. Und Wehmut. Der vorliegende Roman, dessen zentrale Figur, die störrische alte Dame, Mrs Kitteridge ist, Namenspatronin des Romans (Originaltitel), beschäftigt sich unter anderem damit, hinter die Fassaden zu schauen. Vordergründig geht es allen gut, aber wenn man genauer hinschaut, hat jeder in dem kleinen Küstenstädtchen im Bundesstaat Maine, in dem die ehemalige Lehrerin wohnt, sein Päckchen zu tragen. Wieder einmal ist nicht einsehbar, warum der deutsche Roman einen anderen Titel hat als das Original. „Olive, again“. Das kann man doch wunderbar übersetzen. Obwohl durch Olive verbunden, die allmählich alt wird und zu ihrem Entsetzen feststellt, dass der Tod auch für sie vor der Tür steht, nach einem Herzanfall sogar unmittelbar mit seiner Knochenhand winkt, wo sie doch eigentlich, tief in ihrem Inneren sich immer für unsterblich gehalten hat (wie wir alle), ist der neue Roman von Elizabeth Strout "nur" ein Episodenroman. Außerdem ist er die Fortsetzung von „Olive Kitteridge“, dem Roman, der bei uns den Titel trägt: „Mit Blick aufs Meer“. Es tauchen also, vermutlich, alte Bekannte auf, wenn man „Mit Blick aufs Meer“ gelesen hat. Olive, die die Menschen eigentlich kennen sollte, war sie doch viele Jahre lang Pädagogin, gefällt der Leserschaft ungemein, weil sie immer noch zu verblüffen ist. Auch sie ist ein Opfer ihrer Vorurteile. Aber sie ist auch ein Mensch, der dazulernt, der gelegentlich eine erstaunliche Offenheit an den Tag legt und in ihrer Selbsterkenntnis zunimmt. Allerdings deprimiert es sie, wie ihr falsches Selbstbild allmählich zerfällt. Ist sie ein Leben lang eine unbequeme Person gewesen, die das, was sie für die Wahrheit hält, anderen ins Gesicht sagt, kommt sie ihren eigenen Lebenslügen immer mehr auf die Spur und muss seufzend bekennen, ich weiß, dass ich nichts weiß. Das sagt sie natürlich anders. Sehr viel hübscher, witziger. Stroutmässig eben! Dieser Roman ist nicht wirklich traurig, obwohl er das Ende des Lebens und vor allem die diesem Ende vorangehenden Beschwerlichkeiten ins Auge fasst, körperliche Schwäche, Einsamkeit, Depressionen, Vergesslichkeit bis zum Verlust der Persönlichkeit und, im besten Sinne, Selbsterkennntis. Denn der Leser darf öfters herzhaft lachen, wenn Olive eine ihrer verblüffenden Erkenntnisse hat und wieder einmal ihr Selbstbild zurechtrücken muss. Oder wenn Olive ihr Schicksal dann doch mit beissendem Humor annimmt. Oder es wenigstens versucht. Oder sagen wir es anders, dieser Roman ist nicht hauptsächlich traurig. Sind wir nicht alle, mehr oder weniger Olive, keineswegs die guten Mütter, die wir anstreben zu sein, selfish, mäßige Ehefrauen, sich dem Klatsch ergebende Nachbarinnen – die Mannsleute haben ihre Affären, vergraben sich in ihrer Schweigsamkeit oder verbarrikadieren sich in ihren Hobbies. Und am Ende, nachdem sie endlich tot und begraben sind, wird das Bild der Lebenspartner verklärt. So sehnt sich Jack nach Betsy und Olive nach Henry. Obwohl sie sich nicht wenig über deren Ticks und Unzulänglichkeiten geärgert haben. Sie entweder betrogen haben oder sie links liegen ließen. Erst jetzt, nachdem sie nicht mehr verfügbar sind, erkennen die beiden, den wirklichen Wert ihrer früheren Partner und was sie ihnen bedeutet haben. Worüber schreibt Elizabeth Strout also? Darüber, wie das Leben ist. Darüber, dass das Leben schön ist. Aber auch lächerlich. Schmerzhaft. Und wir wissen so wenig darüber. Egal, wie alt wir werden. Lassen Sie mich die gute alte Bibel zitieren: "Unser Wissen ist Stückwerk". Aber dann denkt Olive doch, dass ihr Leben, verglichen mit anderen Schicksalen, gar nicht so übel war. Wenn das nicht versöhnlich stimmt! Fazit: Ein Roman voller Witz und Weisheit und Wehmut. Kategorie: Gute Unterhaltung. Verlag: Luchterhand, 2020

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