lisamarie
Fantasy ganz ohne Klischees, geht das? Ja, zumindest fast. Das Lied der Krähen bzw. Six of Crows, wie das Buch im Original heißt, ist ein 2017 von der Autorin Leigh Bardugo geschriebener Fantasy Roman, welcher sich bereits im Konzept nicht aus dem Topf der Fantasy-Klischees bedient. Es geht nicht um Elfen, Zwerge, Drachen und fleischgewordene Götter. Die Akteure dieses Buches sind Menschen. Mehr oder weniger einzigartig, aber eben nur Menschen. In diesem Sinne erinnert das Konzept stark an die Klingenromane von Joe Abercrombie. Bardugo geht aber noch einen Schritt weiter. Während die Charaktere in Abercrombies Kriegsklingen und den direkten Nachfolgern Menschen aus zentralen Kreisen der Macht sind, oder zumindest in Verstrickungen mit diesen hineingezogen werden, sind Kaz, der inoffizielle/offizielle Anführer der namensgebenden Krähen und seine Meute eine bunte Truppe aus sprichwörtlich niederem Gesindel. Kriminelle, Vertriebene, Spione, Glückspieler und anderes. Dennoch oder auch genau deswegen betreibt Bardugo exzellentes World-Building, entdeckt man diese Welt doch aus den Augen des Volkes. In Six of Crows ist es einfach nicht notwendig über die staatlichen Strukturen in jedem der vorkommenden Nationen exakt bescheid zu wissen, stattdessen wird man im Laufe der knapp 600 Seiten regelmäßig mit beiläufigen Informationen über die zahlreichen Kulturen gefüttert. Diese Beiläufigkeit macht es in den ersten Kapiteln noch schwierig sich zurechtzufinden. Immerhin werden Namen, Begriffe, Bezeichnungen für diverse Volksstämme wie etwa die Grischa, oder Länder nur allmählich eingeworfen, oder erst später nachgereicht. Man kann dem aber auch etwas Gutes abgewinnen. Einerseits fördert diese Erzählmethode die Immersion des Lesers in die Geschichte. Anstatt über die Geographie, Geschichte und Kultur der Welt zu referieren wie ein Schulbuch, erhält man die Informationen meist aus erster Hand, also direkt von den Charakteren des Buches. Aus ihren Gedanken und ihren Dialogen setzt sich langsam im Kopf des Betrachters die umfangreiche Welt zusammen und erzeugt dadurch eine unglaubliche Tiefe, denn schlussendlich ist nicht jede Information, die es über die Welt gibt auch für die Charaktere relevant und man erhält das Gefühl nur einen winzigen Ausschnitt einer unvorstellbar großen Geschichte gesehen zu haben. Man wird sehen, ob weitere Bücher in diesem Universum dieses Bedürfnis nach mehr Informationen und Geschichten in dieser Welt befriedigen können. Man dürstet regelrecht nach Romanen, welche zu anderen Zeiten und anderen Orten spielen, nur um mehr zu erfahren. Nun zu einem anderen positiven Argument. Der Leser wird hier vor allem in den ersten Kapiteln gefordert sich Gedanken zu machen und diverse Verknüpfungen selbst zu erstellen. Dies bereitet ihn vor allem auch auf die vielen Ränkeschmiede und Wendungen vor, die noch im Laufe der Geschichte folgen. Denn genauso geheimnisvoll, wie der bewusst informationskarge und dennoch weltenerschaffende Erzählstil, sind auch die Charaktere in dieser Welt. Es macht viel mehr Spaß die Geschichte aktiv zu erleben, statt nur mitgezogen zu werden, mit zu rätseln, Freude ob eines erfolgreich vorhergesehenen Plottwists zu empfinden, oder noch mehr positive Gefühle nach einer Wendung zu empfinden, die man gerade eben nicht erwartet hat. Die größte Freude, die ich während dem Lesen dieses Buches empfand, war gegen Ende, als ich diverse direkt hintereinander folgende Plottwists erfolgreich berechnet hatte, nur um eine außerordentlich offensichtliche Wendung vollkommen zu übersehen. Die Enthüllung traf mich unvorbereitet und so musste ich trotz, oder vor allem wegen meiner eigenen Überheblichkeit laut auflachen. Bleiben wir beim Thema Plottwists. Es geht um Machenschaften in dunklen Gassen, geheime Abkommen, zwielichtige Akteure und kriminelle Banden. Dass dies viel Potential für zahlreiche Wendungen bietet ist abzusehen und dennoch stellte sich zu Beginn des letzten Drittels das leichte Gefühl ein, dass die Geschichte nun doch vorhersehbar werden würde. Hätte ich die Rezension zu diesem Zeitpunkt geschrieben, wäre sie wohl anders ausgefallen. Im Nachhinein gesehen lässt sich dieses Gefühl erklären. Nach nunmehr zwei Dritteln kennt man an dieser Stelle die Charaktere in und auswendig, oder denkt zumindest diese entsprechend gut zu kennen. So ist es für den Leser nichtmehr verwunderlich, dass ein Charakter, welcher plötzlich Verrat zu begehen scheint, dies eben nicht tut, weil es einfach nicht zu ihm und dem was man über ihn erfahren hat passen würde. Bardugo opfert also nicht die eigene Glaubwürdigkeit bzw. die Glaubwürdigkeit der Charaktere zu Gunsten von künstlich erzwungenen Spannungsmomenten und Wendungen. Dies hat sie auch nicht nötig, denn an solchen mangelt es auch so nicht. Nach der kurzen Durststrecke steigt die Spannung nämlich ins unermessliche und der Rest dieses letzten Drittels gleicht einer rasanten Hasenjagd. War man vorher in vermeintlich sicheren Gefilden, so ändert sich nun gefühlt in jeder zweiten Zeile die Richtung, in die die Geschichte geht. Bis auf ein paar Fixpunkte, welche ein wenig absehbar sind, ist alles offen und sobald man den Gedanken fasst die nächste Aktion vorhersehen zu können, ändert sich abrupt wieder der Verlauf und die komplette Theorie wird wertlos. Ein Großartiges hin und her zwischen Erwartung, Erfüllung und Enttäuschung. Man merkt hier die Verbindung von Leigh Bardugo zum Film. Dort war sie als Special-Effects-Designerin zwar nicht in die Entwicklung der Drehbücher involviert, dürfte aber so einiges aufgeschnappt haben. Was man wohl definitiv in diesem Beruf benötigt ist Vorstellungskraft, um möglichst beeindruckende Effekte zu generieren und passt dies nicht perfekt zu einer lebhaften und bildlichen Erzählweise wie sie hier zelebriert wird? 850 Wörter und noch wurde fast kein Wort über die Charaktere verloren. Sucht man hier einen einzelnen Hauptcharakter, so findet man wohl schnell Kaz Brekker. Ein undurchsichtiger und souverän auftretender Anführer und sein markantes Humpeln. Bardugo basierte ihn auf sich selbst, da sie an einer chronischen Knochenerkrankung leidet, wodurch jegliche Bewegung mit Schmerzen verbunden ist. Dennoch ist Kaz eben nicht wehrlos, was so einige unglückliche Kontrahenten schmerzlich erfahren müssen. Kaz ist ein Anführer, ein Stratege und ein Mastermind. Schon früh wird etabliert, dass egal, was passiert, er immer einen Plan hat. Auch wenn es so aussieht, er würde überrumpelt werden, so stellt sich doch immer heraus, dass alles von ihm geplant war. Maßgeblich daran beteiligt ist das Phantom Inej. Seine persönliche lautlose Spionin. Außerdem gesellt sich zu ihnen ein spielsüchtiger Scharfschütze, ein in Ungnade gefallener Hexenjäger und eine Grisha, also jemand mit scheinbar magischen Fähigkeiten. Die Dynamik zwischen ihr und dem Hexenjäger ist daher klarerweise eine ganz spezielle und bildet eine der vielen Parallelhandlungen. Ob diese Geschichte über Hassliebe und Vorurteile notwendig ist, sei dahingestellt, sie passt aber doch recht gut in die Geschichte, ohne von der eigentlichen Handlung abzulenken. Was man aber sieht ist, dass es hier eine ganze Gruppe aus in gleichem Maße wichtigen Charakteren gibt. Es wird keine klare Präferenz gezogen und immer wieder Einblicke in die Hintergrundgeschichten gegeben. Dies funktioniert vor allem deswegen, weil jedes Kapitel aus der Sicht eines dieser Charaktere geschrieben ist. Durch den Namen des jeweiligen Protagonisten am Anfang jedes Kapitels wird dem Leser gezeigt, aus wessen Sicht die folgende Handlung zu sehen ist. Dies ist eigentlich eine sehr elegante Lösung für ein Problem, welches in jeder Geschichte auftaucht, in der mehrere gleichbedeutende Charaktere auftauchen. Die Frage ist immer, wie separiert man die einzelnen Anteile. Also wie erzählt man über diese, ohne ein Wirrwarr aus den Gedanken und Aussagen aller Protagonisten zu erhalten. Denn ein solches Durcheinander trübt das Lesevergnügen nachhaltig und motiviert nicht gerade das Buch zu Ende zu lesen. Hier tritt dieses Problem auf. Die Bereiche sind klar getrennt und einfach einem Charakter zuweisbar. So erhält man eindeutig definierte Puzzleteile, aus denen man sich die Profile der Charaktere zusammensetzt. Dies gilt ganz besonders für Kaz, dem eine wunderbar dramatische Hintergrundgeschichte gegeben wurde und dessen Beweggründe dadurch nachvollziehbar werden und dies alles wieder, ohne viele Klischees zu bedienen. Freut euch auf diese Enthüllungen, sie sind es definitiv wert. Aber wo sind denn nun diese wenigen Klischees, welche ich beiläufig erwähnt hatte? Da wären diese Liebesgeschichten. Hauptcharakter verliebt sich in Hauptcharakter. Beide schaffen es bis zum Schluss nicht, sich soweit zu öffnen, dass eine Beziehung zustande kommt. Es gibt nicht ausgesprochene Zuneigung und das meiste passiert nur in Gedanken. Aber was soll ich dazu noch sagen: Es ist egal. Auch diese Parallelhandlung fühlt sich nicht fehl am Platz an. Man sieht über sie eigentlich hinweg und ist auch ein klein wenig gespannt, was sich daraus noch entwickelt. Außerdem wurde sie klug als eine der Verbindungen zum nächsten Band genutzt. Wenn man die Rezension aufmerksam gelesen hat, so kann man wohl auch hier einen unvorhergesehenen Ausgang erwarten. Ein kurzes Fazit: Lesenswert! Ohne viele Worte noch zu verlieren, empfehle ich jedem dieses Buch zu lesen. Es ist ein Erlebnis und macht Lust auf mehr. Es gibt großartige unabhängige Charaktere, die sowohl menschlich, als auch mit besonderen Eigenschaften bestückt sind, ein ungewöhnliches Konzept, eine spannende Handlung, unvorhergesehene Wendungen, eine wunderbar große und mysteriöse Welt mit viel Tiefe und eine Art von Magie, wie sie sonst nicht in anderen Büchern zu finden ist.