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emswashed

Posted on 27.9.2020

"Hüter der Erinnerung" hört sich ein wenig nach Fantasy an, mit geheimnisvollen Tempeln, Priestern und Aufgaben, die sich mit ein wenig Zauberei gegen die bösen Mächte lösen lassen. Weit gefehlt. Nichts könnte harmonischer sein, als die Familienidylle, wo Vater, Mutter und zwei Kinder sich gegenseitig ihre Gefühle vom Tage beim Abendbrottisch und ihre Träume zum Frühstück erzählen. Allein die ritualisierten Fragen, die genormten Sätze der Entschuldigung sind auffällig und das Gedankenspiel des 11jährigen Sohnes Jonas lassen bald vermuten, dass hinter diesem perfekten Bühnenbild eine Menge Regeln, Ver- und Gebote stecken. Die Kindheit in dieser Utopie ist bis zum 12. Lebensjahr durchgetaktet und jeden Dezember darf sich jedes Kind auf einen weiteren Schritt ins Leben freuen: das erste eigene Fahrrad, die ersten Praktikumsstunden, ein Wechsel der Kleidung und der Haartracht. Spätestens hier zeigt sich die völlige Kontrolle der Menschen von Kindesbeinen an. Mit dem Ende des 11. Jahres werden die Kinder vom Ältestenrat für je eine bestimmte Tätigkeit vorgesehen. Von nun an arbeiten sie nach der Schule in ihren zukünftigen Berufen, bis sie selbst einen Antrag auf Elternschaft stellen, irgendwann dann in ein Altenheim gehen, um schließlich freigegeben zu werden. Von Jonas erfahren wir schließlich, dass er zum zukünftigen Hüter der Erinnerung ausgebildet werden soll. Was das bedeutet, warum augerechnet Jonas dafür bestimmt ist, was hinter all diesen Reglementierungen steckt, was "freigeben" wirklich bedeutet..... ein Paradies offenbart ihre schwärzesten Schatten. Lois Lowry präsentiert hier sehr geschickt eine Utopie, die sich anfangs mit wenigen Sätzen, später mit voller Wucht zur Dystopie entwickelt. Sie kehrt den Wunsch, endlich in allen Belangen (Hautfarbe, Geschlecht, Armut und Reichtum...) Gleichberechtigung zu erlangen, in ein grauenvolles Schreckensszenario, wo die Menschen nicht mehr über Liebe, Tod und Glück nachdenken wollen. Die Sprache wird bis zur Bedeutungsumkehr verfälscht, das Sehvermögen auf ein alles gleichmachendes Level gesenkt, die Gefühle medikamentös unterdrückt und "Ausreißer" gnadenlos freigegeben. Selbst das offene Ende, eine Schlittenfahrt, hat mich befriedigt, denn es lässt mir die Wahl, welche den Protagonisten in dem Buch nicht gegeben ist. Mich hat das Buch überrascht und sehr beeindruckt und ich möchte Lois Lowry auf eine Stufe mit Margaret Atwood und Ursula K. LeGuin stellen, auch wenn erstere "nur" Kinder- und Jugendbücher geschrieben hat.

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