wandanoir
Geistreich. Böse. Tiefsinnig. Witzig. Der Roman „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017 und hat meines Erachtens gute Chancen auf einen Platz auf der Shortlist (Stand: 11.09.2017. Morgen wissen wir mehr!). Vielen Dank an dieser Stelle an den Verlag, der es mir ermöglichte, diesen Roman wirklich vorab zu lesen! "Die Hauptstadt", ein Roman des österreichischen Romanciers Robert Menasse, ist ein Roman, den man eigentlich zweimal lesen müsste. Er verdient die doppelte Lektüre, denn erst, wenn man ihn beendet hat, weiß man die vielen Feinheiten richtig zu würdigen und vollkommen richtig in den Zusammenhang einzuordnen und amüsiert sich noch viel mehr. Das ist also das erste Resümee: Amüsement. Und das nicht etwa, weil „Die Hauptstadt“ eine plump-lustige Geschichte wäre, nein, der Roman ist in der Heiterkeitssparte nicht unterzubringen, es ist ein in Sprache und Duktus ernsthaft gehaltener Roman mit ganz wundervoll geistreichen Sätzen und Sentenzen. Das ist das zweite Resümee: scharf beobachtet, geistreich in jedem Satz. Der Autor muss Insiderwissen über das bürokratische Kompetenzgerangel besitzen und wissen, wie oft hoch bezahlte Referenten für den Papierkorb arbeiten! Die Handlung ist verzwickt durch die Vielzahl der Handlungsträger, aber mit ein wenig Aufmerksamkeit dennoch leicht zu verstehen. Ein Mord geschieht im Hotel Atlas in Brüssel. Der zuständige Kriminalbeamte wird von dem Fall alsbald abgezogen, da höhere Interessen bestehen, mit anderen Worten, es gibt keinen Mord. Es gibt keine Leiche, keine Aufzeichnungen, kein rein gar nichts. Kommissar Brunfaut, seines Zeichens willfähriger und ein wenig träger Weisungsempfänger macht sich trotzdem Gedanken und forscht nach, allerdings nicht mit letzter Entschiedenheit, da ihn seine eigenen Angelegenheiten mehr und mehr in Anspruch nehmen. Das ist die Rahmenhandlung, wenn man so will, die man als Leser jedoch immer wieder aus dem Blick und dem Gedächtnis verliert, weil so viele andere Abläufe die Konzentration gefangen nehmen. Doch zuletzt schließt sich der Kreis! Die Europäische Kommission will ein anstehendes Jubiläum begehen. Dafür soll eine zündende Idee her. Ein Schwein läuft durch Brüssel. Die Schweinefabrikanten haben eine Lobby gegründet zur Durchsetzung ihrer Interessen. Nationalistische Interessen hängen an der Schweinequote. In den Gremien und Untergremien der EU wird um Kompetenzen, um Jobs, um Posten und um Einfluß gerangelt. Nur der Vorsitzende der Organisation der Schweinezüchter hat ein klar umrissenes Konzept. Ausgerechnet der! Was ist eigentlich der Europäische Gedanke? Hat der Nationalismus ausgedient, kann man ihn überwinden, hat die Europäische Idee Bestand, gar eine Zukunft und inwiefern spielt die blutige europäische Vergangenheit eine Rolle in dem Ganzen? Drittes Resümee: bei aller Gewitzheit und Ironie steckt doch ein ernstes Thema hinter allem! Robert Menasse hat eine scharfsinnige Persiflage auf alles geschrieben, was in Brüssel vermutlich nicht rund läuft, sondern Schieflage hat und Steuergelder verbraucht, ohne dass Sinn und Zweck erkennbar wären. Der Autor fabrizierte mit diesem Roman eine hervorragende Persiflage über aufgeblasenen Bürokratismus und Kompetenzstreitigkeiten, die mit jeder Zeile amüsant zu lesen ist, dabei lehrreich, böse, nachdenklich, spritzig, man möchte brüllen, man möchte schmunzeln, man möchte alle entlassen und neu anfangen! Es wird aufs Abstellgleis „befördert“, es wird verhandelt, es wird intrigiert und geklüngelt, da blicken nur noch gewissenlose, aalglatte Diplomaten durch, wenn überhaupt. Die Sache jedoch scheint längst verraten. Menasses Protagonisten sind lebendig und agil, karrieregeil, wunderbar skizziert, obwohl sie dem Plot untergeordnet sind, sie sind skurril, normal, seltsam, depressiv, aufgeblasen, eingebildet, ängstlich, von ihrer Bedeutung durchdrungen und sind letztlich doch nur arme Schweine, die bei Bedarf durchs Dorf getrieben werden, um im Schweinebild zu bleiben. Der Schluss lässt einige lose Enden übrig. Das macht zunächst etwas ratlos, aber dann ergibt es durchaus Sinn. Wie soll es keine losen Enden geben in einem Betrieb, der einst aus einer hehren Idee heraus entstanden ist, aber dann überbürokratisiert einfach nur ins Leere läuft, wie sollte dabei jedes Quäntchen einen Sinn ergeben und ein rationales Plätzchen finden. Sobald die Medien nicht mehr darüber berichten, werden die Ereignisse uninteressant, einfach vergessen, haben nie existiert oder werden zur Not übertüncht mit einem Staatsbegräbnis. Fazit: Herrlich geistreiche Persiflage über Mensch und Tier im Bürokratiezoo Brüssel. Jeder Federstrich sitzt! Leseempfehlung! Kategorie: Anspruchsvolle Literatur. Longlist Deutscher Buchpreis, 2017 Verlag: Suhrkamp, 2017