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joberlin

Posted on 26.9.2020

Thomas Hettche erzählt in diesem wunderbaren Roman die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und damit in weiten Teilen auch die Geschichte der letzten Kriegsjahre und der dann gegründeten Bundesrepublik. Der Roman beginnt geradezu märchenhaft mit Figuren des Puppentheaters und einem Mädchen, das nach der Vorstellung irgendwie zufällig auf den Dachboden der Bühne gestolpert kommt. Sie trifft dort die bekannt-geliebten Puppen Mikesch, Urmel, Li, oder das stets leicht jokerhaft-bedrohlich wirkende Kasperle. ≪ "Hab tausend Jahre geschlafen", zischte der Kasperl dem Mädchen ins Ohr und presste es im Dunkeln an sich. "Tausend Jahre, die vergingen im Flug. Und nun ist alles verbrannt. Alles verbrannt!" ≫ In einer Art Zwischenebene fügt der Autor dazu noch gekonnt die Lebensgeschichte der Hannelore / Hatü Oehmichen, die hier in Rückschau die Gründungsgeschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt. Das hört sich kompliziert an? Ist es aber nicht, vielmehr gelingt dieser ExtraTwist so lockerleicht, und ist so fantastisch warmherzig geschrieben, dass die Leserin an so mancher Stelle weinen möchte. Denn auch sie ist puppenkistensozialisiert und Adventssonntage ohne dass der Vorhang aufgeht, ohne dass die Puppen spielen, sind noch heute unvorstellbar. Weit greift die Puppenkiste in unser Gemüt und in unsere Herzen und "es ist als wären die Marionetten lebendig und es spielte überhaupt keine Rolle, dass die Mädchen sie an ihren Fäden halten, so sehr sind sie in das Märchen versunken". Das trifft genauso auf Thomas Hettches Lesepublikum zu und gilt besonders für Schilderungen der letzten Kriegsjahre, als alles dem Ende, dem Niedergang zugeht. Hatü realisiert die Judendeportationen, auch wenn ihr nicht ganz klar ist, wohin die Nachbarn, Freunde, Bekannte verschwinden. Besonders In diesen Szenen des Erkennens, des Verlusts, der unendlichen Schmerzens, wird Thomas Hettches Können für mich deutlich - sehr gut und atmosphärisch dicht ist das geschrieben und "das einzige [Gesicht], in dem keine Angst steht, ist das eines großen Mannes in der Nähe der Tür, ein kleines Käppchen auf den grauen Haaren und über dem abgestoßenen Anzug einen weißen Schal." Thomas Hettche führt uns eng am Herzfaden durch seinen Roman, die wunderschönen Illustrationen von Matthias Beckmann tragen zur endgültigen Verzauberung bei.

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