jankuhlbrodt
Schwitters Es gibt in diesem Buch eine Passage, die ein wiederkehrendes Motiv in der Darstellung des Zweiten Weltkrieges beschreibt. Es ist ein Phänomen, das beim Beschuss englischer Ziele durch die Deutschen mit der Rakete V2, die mit Überschall flog, eintrat. „Allein unter der Erde, in der U-Bahn ist es hell, dort weißt man sich mit seinem Lämpchen selbst in die Gänge, knipst es aus. Jeder ist als sein eigenes Glühwürmchen unterwegs. Fireflies nennt man die hier, und Feuerfliegen fallen vom Himmel. Dass, wer die V2 auf sich zustürzen hört, tot ist, dass das Geräusch ankündigt, was bereits geschehen ist, regt ihn nicht mehr auf.“ „Er“ ist der deutsche Künstler Kurt Schwitters. Ulrike Draesner hat im Penguin Verlag einen großartigen Roman über diesen großen Künstler, vorgelegt, dessen Einfluss auf die Gegenwartskunst nach seinem Tod sichtbar wurde. Im Buch gibt es am Ende eine Art Coda, in der sein Nachleben situativ angedeutet wird, das Werk, das seiner Größe wegen, nicht durch die Tür und auch nicht übers Dach in eine Ausstellung passt. Schwitters, der von Norwegen aus, wo er mit seinem Sohn und der Schwiegertochter den Sommer verbrachte, kann, weil er und sein Werk ins Visier der Nazis geraten sind, nicht mehr in seine Heimatstadt Hannover zurückkehren und flieht aus dem bereits besetzten Skandinavischen Land nach England, wo er mit Mühe eine neue Existenz führen kann, um später seine letzten Lebensjahre im Nordenglischen Ambleside zu verbringen. Dreasner, die am Deutschen Literaturinstitut Leipzig Professorin ist, collagiert Episoden und Beschreibungen aus dieser Zeit zu einem literarischen MERZ-Bild. Ein Bild, das von den Ereignissen der Flucht und des hereinbrechenden Krieges überschattet wird. Innerfamiliäre Zerwürfnisse und die Abfolge der Liebesbeziehungen werden im Migrantenschicksal dramatisch verstärkt. Und die Nazis drängen darauf, sein in Hannover verbliebenes Werk ausfindig zu machen und als „Entartete Kunst“ stigmatisiert zu vernichten. Auch die verschiedenen Vorstellungen von Humor machen es dem Deutschen nicht leicht, im Exil anzukommen, und die verräterischen Momente im sprachlichen Ausdruck, die ihn immer wieder als Fremden zu erkennen geben. Es gibt im ersten Drittel des Buches eine kurze Passage, die Schwitters an Bord eines Schiffes beschreibt, auf dem er mit seinem Sohn und dessen Frau Norwegen verlässt. Das Leben verliert im Exil seine eigentliche Größe und zieht sich in sich zusammen. Außerdem führt Schwitters zwei weiße Mäuse mit. Er findet auf Deck einen Draht: „Kurts Hände waren so rauh, dass der Draht an den Fingerkuppen hängen blieb. Ein einziges Mal hatte er früher etwas en miniature ausgeführt, eine Weihnachtscollage für die Dreiers, die in eine Streichholzschachtel passte. Nun wurde Enge zur Sucht.“ Man kann Schwitters Collagearbeit als eine Art Leitmotiv des Romans betrachten. Immer wieder taucht er als Material sammelnder Umgebungs-Sensor auf. Und immer wieder auch seine Gedichte. Ein Buch nicht nur für Schwitterer, der ich seit meiner Schulzeit einer bin, weil am Städtischen Theater Karl-Marx-Stadt am Anfang der Achtzigerjahre ein Schwittersabend gegeben wurde, der mich tief beeindruckte. „Er bückte sich, wühlte, drehte, stopfte Weggeworfenes in die Tasche, schleppte es heim, Geraffel, Plunder, Nippes... Grau, vergilbt, kaputt, nannte die Welt Dinge dieser Art, Kurt erlebte Farbe, Form, Zusammenspiel.“