stefanie aus frei
„Ich wollte inkognito ich sein“ Autor Meyerhoff ist ausgebildeter Schauspieler, in diesem Beruf erfolgreich tätig – und ich las hier mit Genuss etwas, das ich weniger einen klassischen Roman nennen würde – die Erzählung ist autobiographisch. Meyerhoff schreibt von seiner Ausbildung zum Schauspieler in München, während der er, aus Norddeutschland kommend, im Haus seiner Großeltern lebte, und verknüpft diese Erzählung mit Anekdoten über seine Großeltern; meist erfolgt der Wechsel kapitelweise, häufig mit Rückblenden in die Vergangenheit. Dieser Schreibstil wirkt sehr natürlich, fast wie ein Plauderton: Thema soll die Ausbildung sein – ganz natürlich mischen sich damit die Anekdoten. Oder sind die Großeltern das eigentliche Thema? Man liest hier über das groß- und bildungsbürgerliche Milieu; die Großeltern wohnen nicht, sie residieren eher in München in einer Villa direkt neben dem Nymphenburger Schloss. „Viele Male sah ich von hier, wie Gäste nicht einfach den Weg auf das Haus zugingen und dann, sobald sie es erreichten, klingelten, sondern vor der Tür, den Finger schon auf dem Klingelknopf, innehielten. Es war offensichtlich, dass diesen erstarrten Besuchern klar wurde, dass sie sich mit dem Eintreten in das großelterliche Haus für die nächsten Stunden deren Welt unterzuordnen hatten.“ S. 17 Das Renommée der Großeltern ist groß: Die Großmutter war Schauspielerin und Schauspiellehrerin, der Großvater Philosoph; der Vater Meyerhoffs war Direktor einer Kinder- und Jugendpsychiatrie, wodurch der Autor und seine zwei Brüder auf dem Anstaltsgelände heranwuchsen. Überschattet wird der Einstieg ins Erwachsenenleben vom vorangegangenen Unfalltod des mittleren Bruders des Autors – der Text stellt klar, dass er der Trauer daheim durch den Wegzug zu entgehen trachtete. „Ich wollte kein Leben, in dem mein Schmerz rücksichtslos jeden Winkel ausleuchtet, ich wollte jugendlichen Leichtsinn.“ S. 32 Tod und Krankheit bleiben, so ist nun einmal das Leben, trotzdem Begleiter, der Autor kommentiert nüchtern, fängt das Kuriose in der Tragik ein. Der Text ist für mich angenehm, im Plauderton – es gibt viele Stellen, gerade in den Anekdoten über die Großeltern, über die ich, die ich selbst eng mit meinen aufgewachsen bin, schmunzeln oder lächeln kann, so der etwas, hm, höhertourige Getränkekonsum bis hinunter zum Gurgelmittel (mit Enzianschnaps), das letztlich getrunken zur frühmorgendlichen Start-Beschwingtheit führt, oder die ignorierte Schwerhörigkeit. „Der Gipfel der Absurdität war erreicht, wenn ich mit meinem Großvater telefonierte und meine Großmutter von weit weg etwas rief, was er falsch an mich weitergab. Ich hörte meine Großmutter rufen: ‚Herrmann, bitte frag ihn doch, ob er noch Kerzen hat!‘ Und daraufhin sagte mein Großvater zu mir: ‚Ich soll dir sagen, dass sie noch Schmerzen hat!‘ Ich antwortete: ‚Ja, ich glaube oben im Sekretär.‘ Und mein Großvater nach einer Pause mit leicht besorgter Stimme: ‚Junge, wovon sprichst du?‘ S. 52 Auch die Ausbildung an der renommierten Otto-Falckenberg-Schule bietet wenig Erholung von Skurrilitäten. „Folgender Reim sollte meine Lippen beweglicher machen und mit Blut füllen: ‚Bald balgen sich die beiden blonden Buben, bald bauen prächtige Burgen sie beim Bach, bald baumeln ihre braun gebrannten Beine vom Blätterbau des Birnenbaums heran.‘ Am Ende der Stunde hatte ich das Gefühl, mein vegetatives Nervensystem für immer zerschossen zu haben.“ S. 93 Dazu kommen Aufgaben wie eine Szene aus Effi Briest als Nilpferd darzustellen oder Spaghetti im kochenden Wasser. Gleichzeitig erfährt der Schauspielschüler einen Mangel an echter Nähe bei permanentem Körper- und Blickkontakt. „Nur bei meinen Großeltern schloss sich allabendlich die Lücke und ihre Vertrautheit und Zugewandtheit, ihr aus Hochprozentigem geknüpftes Netz fingen mich sicher auf.“ S. 111 Das Gefühl des Versagens, der Zerrissenheit hält lange an, bis aus dem Schauspieler auch der Autor Meyerhoff wird, zunächst für eine Bühnenadaption von Goethes Werther (daher der Titel des Buches). Ich habe die Lektüre wirklich genossen – mir bleibt nur ein kleines Manko, das ich aber nicht dem Autor anlasten könnte: Das Buch steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2016, dem Preis, mit dem der „Roman des Jahres“ ausgezeichnet wird. Für die Nominierung ist mir das Werk einfach „zu viel“ Autobiographie und „zu wenig“ Roman. Das tut aber dem Lesevergnügen keinen Abbruch – dazu plaudert Meyerhoff schlicht zu angenehm selbst über die traurigeren Aspekte seines Lebens mit einem leicht selbstironischen Blick auf sich selbst und schlägt damit letztlich eine Brücke zu MEINER geliebten Großmutter: wenn die hinfiel und selbst nicht wieder aufstehen konnte, fing sie stets furchtbar an zu lachen darüber, wie hilflos das wohl aussehen möge. Nicht die schlechteste Einstellung im Leben. https://de.wikipedia.org/wiki/Inge_Birkmann https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Krings Folgebuch: natürlich: Theodor Fontane: „Effi Briest“ Frederik Backman: „Britt-Marie war hier“ (S. 113 bei Meyerhoff „Was, überlegte ich, braucht eigentlich mehr Kraft, mehr Mut: etwas durchzuhalten oder etwas abzubrechen?“)