stefanie aus frei
Sehr empfehlenswerter Mix aus Heimat- und Zeitgeschichte, Spionageroman, Politthriller,... Der Plot ist genial: Der Mossad schickt eine völlig unerfahrene gebürtige Kölner Jüdin los in den Schwarzwald, um dort ein Attentat gegen Adenauer zu verhindern – die Verhandlungen um die sogenannten „Wiedergutmachungszahlungen“ sollen nicht gefährdet werden. Ihre Eignung besteht darin, am Urlaubsort des Kanzlers selbst die Ferien ihrer Kindheit verbracht zu haben und die Sprache derer zu sprechen, die außer ihrer Schwester ihre gesamte Familie ausgelöscht haben. Der Attentäter wird befürchtet in den Kreisen derjenigen Israelis, die das „Blutgeld“ ablehnen. „Warten bedeutete, unnütze Zeit zu haben, und unnütze Zeit war ein gefährliches Pulver. Ein bisschen davon auf die gut verschlossene Kiste voll von Verlust, Schmerz und Erinnerung gestreut, und diese explodierte und ließ alles in Fetzen im Kopf herumschwirren. Das Vergessen war lebensnotwendig. Wer nicht vergessen konnte, wurde wahnsinnig. Sie war eine Meisterin im Vergessen. Nur so war das Leben auszuhalten.“ S. 27 Wie bitte schafft es Autorin Brigitte Glaser, ein Buch zu schreiben, dass • sowohl Heimatgeschichte erzählt (Schwarzwald, besonders um Bühl) • als auch Zeitgeschichte (Adenauer und die Wiedergutmachungsverhandlungen bezüglich des Staates Israel, Leben im Kibbuz), • das Spionageroman und Politthriller ist (ich wusste nicht, dass es ein – reales - Attentat auf Adenauer durch Zionisten gegeben hatte, was verschwiegen wurde, um die Beziehungen zu Israel nicht zu gefährden, wofür ihm Ben Gurion dauerhaft dankbar war) • und noch dazu einen tiefen Einblick abliefert über Schuld, menschliche Beziehungen und Verdrängung? Das Buch entpuppte sich als absoluter Glücksgriff – ich liebe anspruchsvolle Romane, ich liebe spannende Literatur, ich nutze gerne Bücher, um mich einer Zeit, einem Land oder einer Gruppe zu nähern, hier finde ich einen der seltenen Fälle, die ALLES gleichzeitig können. Ich bin kaum jemals so vielen „red herrings“ hinterhergerannt, so viele Spuren legt die Autorin über praktisch die komplette Seitenzahl. Bei allem nutzt sie einen besonderen Stil: Es wird etwas erwähnt – und später, teils wirklich etliche Seiten später wird dieser Hinweis in einen Zusammenhang eingebettet. Ein Beispiel: „In Haifa waren Rachel und sie [Rosa Silbermann, die Protagonistin] vor fast zwanzig Jahren als Jugendliche angekommen.“ S. 8 Später wird dann erklärt, dass Rachel sich kurz nach 1932 für die zionistische Idee begeistert hatte und mit ihrer jüngeren Schwester, auch angesichts der aufkommenden Probleme für Juden in Deutschland, mitnichten aus Spaß und Freude eingewandert war. Das ist noch ein mildes Beispiel, weil man sich diese Auflösung als naheliegend ja auch hätte denken können, doch ich werde ganz sicher hier nichts Weiteres verraten. Während mich oft in Büchern die sehr einfachen Beziehungen und Beweggründe stören, ist in diesem Buch fast alles und alle miteinander verwoben, was die Anzahl der red herrings ins Unermessliche steigen lässt, ohne dabei für mich aber undurchdringbar zu werden. Das Spannungsniveau bleibt einfach hoch, wie bei einem Thriller, weil man so aufmerksam bleiben muss. Da weiß jemand etwas, was einem anderen helfen könnte, erwähnt es aber nicht, um einem Dritten nicht zu schaden. Und über allem hängt die Vergangenheit. „So war das immer. Eine falsche Frage, ein falscher Satz, und alles Leichte und Fröhliche verschwand. ‚Welches Lager?‘, fragte Rosa leise. ‚Majdanek.‘“ S. 264 Glaser schreibt sehr ausgewogen. Auch mit den besten Absichten können Menschen verletzt werden, so soll Rosa ein Attentat verhindern helfen, wird aber fragwürdig moralisch genötigt dazu und völlig unerfahren in eine gefährliche Situation geschoben. Kaum jemand ist einfach das, was er oder sie oberflächlich zu sein scheint. Dadurch ist Rosa bald verstrickt in ein „Gestrüpp aus Spekulation und Manipulation“. Dabei geht das Buch durchaus in die Tiefe, stellt die verschiedenen Lebensstile gegenüber: da sind die, für die jede Kritik an Israel einem Verrat gleichkommt, aber auch jene, die zurück nach Deutschland gehen, „weil ein judenfreies Deutschland einem Sieg über Hitler gleichgekommen wäre“. Da sind die Kriegsgewinnler, die Ewiggestrigen, aber auch jene, die heute noch von Albträumen geplagt werden, oder selbst Opfer der Befreier wurden, weil sie aus dem Volk der Täter stammten. Der Sicht Rosas gegenübergestellt wird die Sicht von Sophie Reisacher, Hausdame auf der Bühlerhöhe, auch hierdurch wird eine tiefere, ausgewogenere Sicht gezeigt, wird deutlich, dass persönlicher „Ballast“ und Ziele bei allen den klaren Blick hemmen können. Insgesamt definitiv fesselnd, informativ, schön zu lesen! Am Ende des Buches folgt ab Seite 337 ein Glossar – ich habe noch einiges mehr nachgeschlagen, und empfehle das je nach Wissensstand und Interesse auch durchaus – sowie weitere Quellenangaben. Das perfekte Buch "davor" oder "danach": Daphne du Maurier "Rebecca" (oder die tolle Hitchcock-Verfilmung) Leon Uris "Exodus" (als Film mit Paul Newman)