wandanoir
Die Null bezieht ihren Wert durch ihre Umgebung. Michael Wildenhain, das hat er mit seinen Romanen bereits hinlänglich bewiesen, ist ein unbequemer Autor. Er mutet seiner Leserschaft einiges zu. Ob sich die literarische Zumutung auszahlt, ist die Frage. So oder so: in seinen Romanen geht es um das Scheitern der menschlichen Existenz. Sein neuster Roman „Die Erfindung der Null“ dreht sich um den Loser, insofern natürlich eine Null, Dr. Martin Gödeler. Martin ist hochbegabt. Ein Mathematiker. Der sich in die reine Mathematik nicht nur verbeißt, sondern verliebt hat. Ein Überflieger. Der im Laufe seines Lebens drei Frauen trifft, die ihn prägen. Zunächst läuft alles bestens, er verliebt sich in seine intelligente Kommilitonin Gunde, bekommt ein Kind mit ihr und schreibt schließlich an seiner Doktorarbeit. In der er sich alsbald verheddert. Er findet keinen Ausweg, keinen Abschluss, er gerät in tiefe innere Not. Sein Absturz zeichnet sich bereits ab. Schnell wird ihm alles schal. Martin ist ein Scheiternder per excellence. Vielleicht ist ja die reine Mathematik als zentraler Lebensinhalt zu hoch philosophisch und blutleer, um ein Leben auszufüllen? Solche Fragen stellt man sich am Rande. Bevor Martin aufgibt, er neigt zum Aufgeben, neigt mehr zur Null als zur Eins, trifft er auf die herausragende Dozentin der Mathematik Dr. Elisabeth Lucile Trouvé und verfällt ihr mit Haut und Haar. Er wechselt die Frau, er wechselt die Stadt. Er ist wieder mathematisch zentriert und „Lu“ kann ihm das Wasser reichen. Die dritte Frau, Susanne Melforsch, ist eine Stalkerin. Sie ist rätselhaft. Wirft sich ihm an den Hals als sie zwanzig ist, kehrt zurück mit siebenundvierzig und bringt ihn schlussendlich vor den Kadi. Bei der Wiederbegegnung der beiden, ist Martin längst eine echte Null. Lebt in einer Souterrainwohnung, die er vergammeln lässt, er ist verwahrlost, innen und außen. Der Kommentar: Der Roman von Michael Wildenhain hat, wie seine ersten beiden Romane auch, eine politische Komponente. Sie ist nicht zentral, es scheint dem Autor aber wichtig zu sein, darzustellen, dass Menschen an ihrer Politik scheitern. Also am realen Leben. Dort haben sie keinen Einfluss, sie bleiben eine Nullnummer. Der Roman hat eine philosophische Komponente, was nicht verwunderlich sein dürfte, da es um „die reine Mathematik“ geht, um etwas Verkopftes, das nur wenige Menschen begreifen. Kein Wunder, dass der Pragmatismus der Susanne M. eher greift als das rein Geistige. Und eigentlich siegt. Der Protagonist wird von seiner Umgebung bestimmt. Wie eine Null eben den Wert wechselt, je nachdem, von welcher Zahl sie bestimmt wird. Natürlich gibt es im Roman noch jede Menge Nebenhandlung, Odysseus taucht ebenso auf (warum ist er nicht in „Das Singen der Sirenen“ geblieben?) wie der Mathematiker Evariste Galois, mit dessen Existenz sicherlich alle Leser bestens vertraut sein dürften (bitte aufzeigen wer ihn nicht kennt!), pöbelnde, gewalttätige Jugendliche spielen eine Rolle, zu denen der Protagonist eine seltsame Affinität hat. Und ein Staatsawalt, dem Martin sein Leben erzählt. Nun könnte man denken, das ist doch ein super Roman. Handlung, Metaebene, Philosophie, Kriminalfall. Ja, könnte man. Ist aber nicht. Denn das Meiste muss die geneigte Leserin interpretieren. Die Geschichte ist weder linear noch stringent. Man muss zwischen unwichtigem Wust ein paar klare Gedanken extrahieren. Das ist nicht nur fordernd, sondern leider auch, trotz allerhand Tiefschürfendem, äußerst langweilig. Das mag daran liegen, dass Martin selber so langweilig ist: Eben eine Null. „Die Erfindung der Null“ ist ein allzu kompliziertes, hochphilosophisches Machwerk, das Mehrwert hat, wenn man bereit ist, sich durch ein Dornengestrüpp von Nebenhandlungen und assoziativen Gedanken zu wühlen. Ein wenig mehr an Erklärung und Erläuterungen plus Interpretation sollte der Autor dem Leser jedoch künftig unbedingt an die Hand geben, sonst läuft er Gefahr bald der einzige Leser seiner Werke zu bleiben. Fazit: Zu ambitioniert. Kategorie: (Zu) anspruchsvoller Roman Klett Cotta, 2020