stefanie aus frei
Gut geschrieben, aber für mich zu unreflektiert und Hauptfigur zu unglaubwürdig Vorab: Literatur darf, kann, soll bei mir fast alles. Man nenne mir eine Ächtung, gar eine Fatwa, die staatliche Anschuldigung des Volksverrats gegen einen Autor – ich kaufe blind. Das Thema dieses Buches IST eindeutig und definitiv Charles Manson. Der schwarze Schulbus, die bevorzugte „Rekrutierung“ von reichen Töchtern – ich empfehle dringend eine entsprechende Recherche; die Umsetzung ist natürlich nicht „wort-wörtlich“. Das erklärt auch, warum es in den USA einfach gehypt werden musste – nehmen wir für unsere Region Marianne Bachmeier oder die RAF-Aktivitäten und wir sind noch nicht im Ansatz dort. Sex, Drugs AND Rock’n Roll, dazu die Kulmination in den Morden – selbst ein schlechtes Buch wäre dort damit eingeschlagen. Darf man das? Es geht hier um wirklich reale Opfer, bestialische Taten – und so sehr ich schätze, eher eine literarische Aufbereitung eines Themas denn ein Sachbuch zu lesen, weil es mir einfach näher zu gehen vermag – der Respekt gegenüber (heute noch lebenden!) Betroffenen, Hinterbliebenen lässt mich das Buch früh mit einem schalen Beigeschmack in die Hand nehmen. Nein, sehr früh bereits (rund ab S. 100) besteht KEIN abstrahierender Abstand des Werkes. Natascha Kampusch, Jan-Philipp Reemtsma schreiben ein Buch – ja, das entscheiden DIESE – Juli Zeh schreibt einen Roman über ein junges Mädchen, das von der Straße weg entführt und über lange Jahre gefangen gehalten…eher nicht. Lasse ich diese „moralischen Vorbehalte“ beiseite, habe ich immer noch einen sehr zähen Einstieg in das Buch. Ich „kaufe“ diese Evie einfach der Autorin nicht ab – aus wohlhabender Familie, vierzehn Jahre alt, jünger aussehend – sie erprobt Zeitschriftentipps, Make-up-Varianten. Sie hofft, wahrgenommen zu werden, ist irgendwie „dazwischen“, wartend, himmelt ältere Jungs an, es gibt sexuelle Fantasien, erste Fummeleien – bis dahin ja. Aber sie kifft praktisch permanent auch vor dem Treff mit „The Girls“, erlebt die letzte gemeinsame Party der danach bald geschiedenen Eltern daheim mit mehreren Drinks intus (aber dabei ziemlich klar im Kopf und aufrecht auf den Beinen), lässt sich vom älteren Bruder der Freundin auffordern, sich zu ihm ins Bett zu legen (ja, sie himmelt auch ihn an und es passiert auch eher wenig) – wirklich? Vielleicht sind es nur meine Vorbehalte (ich will dem Buch wirklich eine Chance geben). Die USA hatten die Hippies und Woodstock, wir hatten die 68er – ich wurde danach geboren, aber meiner Erfahrung nach galt alles Beschriebene viel weniger auf dem Lande, dort gab es vielleicht die Fernsehbilder, die Sehnsüchte, sogar die gleiche Mode, aber gleichzeitig die viel stärkere soziale Einbindung. Und auch wenn Evie die Scheidung zu verkraften hat (man hat da das Gefühl, das sei eher wenig überraschend, da sei schon vorher viel Fassade gewesen), hätte ich ihr Handeln eher bei einer etwas älteren Protagonistin glaubwürdig gefunden. Später bekommt sie vom zwölf(!)jährigen Nachbarssohn Marihuana angeboten und bietet wiederum ihm sich als Dealerin an. Wohlstandsvernachlässigung? Zeitgeist? Hm. Der Punkt, in dem ich Evie glaubwürdig fand, war ihre Explosion gegenüber ihrer Mutter (bis S .94), als sie ihr an den Kopf wirft, wie vorher gegenüber dem Vater alles andere hintanzustellen, sich bereitwillig ausnutzen zu lassen, nur halt von einem anderen Mann. Sie rennt los, das Fahrrad geht kaputt, der schwarze Schulbus kommt vorbei, man bietet ihr eine Mitfahrt an, nimmt sie wahr. Aber dann wieder, als sie auf Russell trifft (das Manson-alter ego) ist ihre erste sexuelle Erfahrung mit ihm die, dass sie sich sofort zu Oralsex nötigen lässt? Ja, ich weiß, für „brave US-Töchter“, die lange erzählt bekamen, keinen Sex vor der Ehe zu haben, „gilt das nicht als Sex“, aber sie ist vorher mehr mit Schauen und Warten beschäftigt gewesen, sie ist vierzehn, sie empfindet Russell als richtig alt…Man muss sich folgendes dabei vergegenwärtigen - die gesamte Handlung, Evies Entwicklung, auf die auch der Teil des Buches, der im Heute verankert ist, abzielt, findet statt während nur drei Monaten, Evies Sommerferien, im Jahr 1969. Mir kommt es über weiter Strecken so vor, als hätte Autorin Emma Cline ihren Fokus so heftig auf einer Geschichte gehabt, die literarisch beschreibt, wie die „Manson-Familie“ funktionieren konnte, dass sie ihre Protagonistin einfach zu schnell, um für mich glaubwürdig zu sein, dorthin geschnippst hat. Da sagt die vierzehnjährige über Roos, eines der Mädchen, sie sei mit einem Polizisten verheiratet gewesen und sie „…drückte sich mit der verträumten Beflissenheit einer misshandelten Ehefrau an den Wänden herum…“ S. 185 Konnte die vierzehnjährige Evie von dieser Welt etwas wissen? Gewalt wird im Buch bei ihren Eltern nicht thematisiert wird wie z.B. ganz offen der Ehebruch. Das eigentliche Sehnsuchtsobjekt Evies ist – und bleibt bis in die Gegenwart – mehr die wenig ältere Suzanne, aus völlig anderen Lebensverhältnissen; nur die Mädchen sind es, denen sie permanent Beachtung schenkt. Wirklich thematisiert wird das nicht, obwohl wir keine traditionelle ältere, sondern eine junge, aktuelle Autorin lesen. Das nachzuvollziehen fällt mir auch an anderer Stelle schwer: "Arme Mädchen. Die Welt mästet sie mit der Verheißung von Liebe. Wie dringend sie sie brauchen, und wie wenig die meisten von ihnen je bekommen werden. Die klebrig süßen Popsongs, die Kleider, die in den Katalogen mit Wörtern wie "Sonnenuntergang" und "Paris" beschrieben werden. Dann werden ihnen die Träume mit brutaler Kraft weggenommen; die Hand, die an den Knöpfen der Jeans zerrt, dass niemand hinsieht, wenn der Mann im Bus seine Freundin anbrüllt." S. 151 Diese Einschätzung Evies zum Weltbild von Mädchen GENERELL bleibt bei ihr von der Jugendlichen zur Erwachsenen stabil, wird auch von der Autorin an keiner Stelle zur Diskussion gestellt – die Frauen bei Cline wollen gefallen, sie verdrängen, was nicht dazu passt, ordnen ihre Bedürfnisse unter, verleugnen ihre Befürchtungen: „Mädchen verstanden sich darauf, diese enttäuschenden weißen Stellen auszumalen.“ „Und nun war ich älter, und die auf Wunschdenken beruhenden Requisiten künftiger Ichs hatten ihr Tröstendes eingebüßt.“ S. 141. Im Alter resignieren die Frauen – ernsthaft erwachsen werden sie nicht (ich scheue den überbenutzten Begriff der „Emanzipation“). Fazit? Der Schreibstil der Debüt-Autorin hat mich schnell durch die Geschichte gleiten lassen, sie kann toll mit Worten umgehen und ist fantastisch in bildhafter Sprache, wobei es teils etwas zu viel davon gibt. Ich würde mir ein anderes Buch mit einem anderen Thema von ihr wünschen. Dafür, dass in „The Girls“ permanent (Selbst-) Beobachtung und Analyse betrieben werden, ist mir das Buch zu unreflektiert. Empfehlung als Folge- oder Alternativroman: Elena Ferrante: "Meine geniale Freundin". Auch ein gehypetes Buch, dem sogar noch 3 weitere folgen sollen. Hier jedoch finde ich die beiden heranwachsenden Mädchen glaubwürdig gezeichnet, auch wenn ich gerade bei Elena nicht nachvollziehen kann, warum sie sich selbst dauernd klein macht. Sie ist als Person schlüssig für mich.