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stefanie aus frei

Posted on 13.9.2020

Ruhige eindringliche Geschichte über Wege der Verlust-Verarbeitung https://www.youtube.com/watch?v=v48WRmli4QA - wie der Klappentext mitteilt, ist es dieses Volkslied, in dem von L’Aquila in den Abruzzen gesungen wird als „Bella Mia“. Das zerstörerische Erdbeben 2009 hatte ich nur noch schwach aus den damaligen Nachrichten in Erinnerung – was mir nicht präsent war: es hatte lange Zeit Vorbeben gegeben – und ebenso lange offizielle Beschwichtigungen. Häufig war beim Bau gepfuscht worden. Und danach wurde viel versprochen – und wenig gehalten. http://www.spiegel.de/panorama/erdbeben-in-l-aquila-viel-geld-fuer-wenig-wiederaufbau-a-771336.html https://de.wikipedia.org/wiki/L%E2%80%99Aquila Die Ich-Erzählerin hat das Erdbeben überlebt, ihre Zwillingsschwester nicht, dafür deren Teenager-Sohn. Beider Häuser sind unbewohnbar und liegen jetzt in einer vom Militär bewachten Sperrzone, nicht viel wurde dort wieder hergestellt. Auch das Haus der Mutter der Zwillinge in einem Dorf in der Nähe wurde zerstört. Jetzt leben drei Generationen zusammen, der Heranwachsende Marco, die Tante Caterina und die Großmutter, in erdbebensicheren Wohnanlagen, schnell, aber schlampig errichtet für die vielen obdachlos gewordenen Menschen, Provisorien ohne sinnvolle Infrastruktur, defizitär in der Verkehrsanbindung wie für die menschlichen Beziehungen. Auf dieser Ausgangssituation setzt Donatella di Pietrantonio ein: Ihr Roman erzählt von der Situation in L’Aquila, ruft diese ins Gedächtnis zurück und klagt durchaus an, was es an Versäumnissen auf offizieller Seite gab und gibt – schließlich fragt man sich zwingend bei der Lektüre, warum das Provisorium der Dauerzustand geblieben ist. Das ist es aber längst nicht: Melancholisch schreibt die Autorin über den Schmerz der Überlebenden im Provisorium, über das Gefühl der Schuld, über das schlechte Gewissen der Überlebenden, über die Gedankenlosigkeit derer ohne Verluste geliebter Menschen, über die vielen Formen der Trauer, die Sprachlosigkeit, das Verharren in der Schuld, das Einander-Ausweichen, das Vermeiden. Die Erinnerung. Ich hatte in diesem Jahr mit Lot Vekemans „Brautkleid aus Warschau schon ein Buch, in dem die, die einander lieben, unfähig sind, miteinander zu reden. Aber während ich dort den Personen am liebsten zugerufen hätte, sie möchten doch ihre Probleme miteinander bereden, weiß ich in dieser Handlung hier, dass das nichts helfen würde. „Die wenigen Wörter, die wir wechseln, prallen an unsichtbaren Hindernissen ab und rollen verzerrt zurück.“ (S. 98). Einig ist sich die erzwungene Schicksalsgemeinschaft nur in der Ablehnung von Marcos von der Mutter geschiedenem Vater Roberto: S. 101 „“Wenn er bei ihr geblieben wäre, wäre sie nicht zum Sterben nach L’Aquila zurückgekommen““, ist es ihr [der Großmutter] einmal bei der Blumenhändlerin vor dem Friedhof herausgerutscht, aber halblaut, als spräche sie zu sich selbst. Das werfen wir Roberto innerlich vor. Alle drei brauchen wir irgendwie einen Schuldigen an diesem unfassbaren Verlust. Marco braucht auch einen Vater.“ Aber der Text schafft noch mehr: in Rückblicken wird das Erdbeben beschrieben wie auch die nachfolgende Zeit in der Notunterkunft: „Im Camp waren wir Luxusgefangene; berühmte Köche kamen, um für unseren fehlenden Appetit zu kochen, und Politiker besuchten uns in sportlicher, den Umständen angemessener Kleidung und mit Gesichtern, die Solidarität ausstrahlen sollten. Die Fernsehkameras filmten sie vor dem blauen Hintergrund der Zelte, während sie versprachen, sich für den baldigen Wiederaufbau des gesamten, vom Erdbeben betroffenen Gebiets einzusetzen, und den Mut und die Würde der so hart geprüften Bevölkerung lobten. Ich ging hinaus und lief herum oder legte mich auf mein Feldbett, um sie nicht zu hören. Abends Aufführungen und Konzerte, alles gratis. Wir hatten keine große Lust darauf, der größte Teil des Publikums kam von außerhalb. Dank des Erdbebens kamen Persönlichkeiten in unsere Breiten, denen es im Traum nicht eingefallen wäre, in L’Aquila aufzutreten, doch niemand übernachtete anschließend hier. Sie fuhren zurück nach Rom, wie sie vor den ständigen Erschütterungen und Unannehmlichkeiten sicher waren.“ (S. 114) Es steht leider nicht im Buch, aber das italienische Original erschien bereits am 15. Oktober 2014; wann man den nötigen Vorlauf mit bedenkt, also sicherlich vor den großen Flüchtlingsströme nach Europa. Ungeachtet dessen schafften es gerade die Schilderungen dieses Buches, die Notgemeinschaft, den plötzlichen Verlust des bisherigen Lebens besser für mich begreifbar zu machen als etliche dedizierte Romane zum Thema, aktuelle Situation der Flüchtlinge oder andere Konflikte, schlicht, weil für mich als deutlich nach dem zweiten Weltkrieg geborene Deutsche Kriege oder Hungersnöte (zum Glück!) einfach viel weniger vorstellbar sind als die beschriebene Situation mit einer Naturkatastrophe als Auslöser – auch in Deutschland stürzte der Gebäudekomplex des Stadtarchivs Köln samt zweier benachbarter Wohngebäude ein, bei einem Hangrutsch in Sachsen-Anhalt wurden drei Bewohner mitgerissen. Vielleicht verfolge ich damit kein politisch korrekter Ansatz, aber authentisch. Aber selbst hier findet noch eine Steigerung statt in der Analyse der inneren Konflikte der Hauptpersonen: „Das Erdbeben hätte es nicht gebraucht; schon vorher hatte jeder seinen eigenen Schmerz.“ (10). Faszinierend, wie die Überlebende Caterina die Erstgeborene Olivia als unerreichbares Ideal empfindet, geliebt, bewundert, beneidet. Sich selbst sieht sie lange als die zur kurz gekommene. „Später, als die Gesichter ausgeprägter wurden, ließen winzige Details eine von uns heiter und gewinnend erscheinen, und mich gewöhnlicher.“ (S. 26) Im Verlauf der Geschichte erkennt sie, dass sie als die jüngere stets aller Fürsorge auf sich konzentrierte. Die Heilung beginnt erst, als das Gefühl von Schuld schwindet und das Leben wieder zugelassen wird. Bis hierher hatte ich dieses Buch geradezu geliebt. Mit dem Ende hingegen bin ich nicht ganz glücklich, es kommt mir etwas zu zügig, etwas zu sehr an zu vielen Fronten, etwas zu glückselig. Genau diese Tatsache hat jedoch dazu geführt, dass ich mich wesentlich länger mit dem Buch beschäftigt habe („darf man sich so schnell wieder dem Leben zuwenden?“) – was sollte Literatur mehr. Insgesamt ein starker Leseeindruck mit sehr facettenreichen Themen. Ich habe mir infolge auch den Erstlingsroman von Donatella di Pietrantonio „Meine Mutter ist ein Fluss“ gekauft.

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