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gwyn

Posted on 9.9.2020

Der Anfang: «Meine Mutter spricht immer noch davon. Fünf Jahre sind vergangen, und mit jedem Jahr hat sich ihre Geschichte verwandelt, ist mutiert, die meisten Einzelheiten sind vergessen, die Abfolge der Ereignisse, der Monat, der Wochentag, die Jahreszeit, das Und-so-weiter-und-so-fort, bis nur noch die absurdesten Details übrigblieben.» Meena Kandasamy hat nicht nur einen autobiografischen Roman über ihre missbräuchliche Ehe geschrieben, sondern auch einen, der das Gesellschaftsbild vom heutigen Indien widergespiegelt. Und es ist ganz allgemein die Geschichte der Gewalt in einer Ehe, die immer nach dem gleichen Muster Schritt für Schritt den Strick immer weiter um den Hals der Frau zuzieht. Interessant ist, wie die Autorin ihre Geschichte beginnt. Sie hat ihren Mann verlassen und ist ins Elternhaus zurückgekehrt. Etwas, das nicht sein darf in Indien. Sie berichtet, wie die Mutter die Rückkehr in ihrem Umfeld begründet – das Wort Schläge oder Gewalt kommt nicht vor. Denn das ist in Indien keine Begründung, den Mann zu verlassen – das gehört schlicht zur Ehe hinzu. Die Mutter ist eine gewaltige Geschichtenerzählerin, redet von verlaustem Haar und schmutzigen, verhornten Füßen. Meena Kandasamy ist eine selbstbewusste junge Frau, eine Feministin. Sie entstammt aus einem intellektuellen Elternhaus, ist belesen, hat Literatur studiert, arbeitet als Schriftstellerin, schreibt für Zeitungen, und sie hat sich bereits mit «unverschämten Gedichten» einen Namen gemacht, als sie auf den charismatischen Uniprofessor trifft, der bald ihr Ehemann werden wird. Er war «so weit links, wie es nur ging». Ein Weltverbesserer, einer, der gegen die Todesstrafe kämpft, sich gegen das Kastensystem stellt, sich für Frauenrechte einsetzt, dabei auch noch charmant und gutaussehend ist. Nach einem halben Jahr sind die beiden verheiratet und die Schriftstellerin zieht zu ihrem Mann nach Mangalore, einen fremden Bundesstaat, dessen Sprache sie nicht beherrscht. «Hier habe ich nicht mehr den Freundeskreis aus Künstlern, den ich in Kerala hatte» – auch ihr familiäres Netzwerk ist nicht mehr vorhanden. Um so wichtiger wird für die Autorin die Elektronik, soziale Medien, SMS, Mailing, um den Kontakt aus der Ferne aufrechtzuerhalten. «Bald nach meiner Hochzeit wurde mir klar, dass mein Mann den indischen Staat und die Bill Gates', die Warren Buffets und die Ambani-Brüder dieser Welt nicht so sehr hasste wie kleinbürgerliche Schriftstellerinnen (also mich). … Die Ehe wurde zum Umerziehungslager. Eer verwandelte sich in einen Dozenten und mich in seine studentische Ehefrau, die von diesem kommunistischen Kreuzfahrer lernte.» Er beginnt mit einer Umerziehung. Sie muss lernen, SIE muss sich ändern – Bücher lesen, Vorträgen lauschen, sie wird abgefragt wie ein Pennäler. Ihr Mann hält die Wahrheit in der Hand, wie immer diese auch aussieht. Sie muss sich anders kleiden, den Lippenstift vernichten, darf sich nicht als «Opfer der Begierde» präsentieren. Und sie muss lernen, dass eine kommunistische Frau in der Öffentlichkeit zwar gleichberechtigt ist, zu Hause allerdings zu gehorchen hat und verprügelt werden kann. Er zwingt sie ihr Facebookprofil zu löschen und ihr alle Passworte zu übergeben. Und hier der übliche Trick: der Vertrauensbeweis. Wer nichts zu verbergen hat, kann dem Ehepartner ja wohl vertrauen - doch wenn man die Passwörter verheimlichen will, hat man garantiert etwas zu verbergen … Sollte sie etwa hinter seinem Rücken Dinge tun, von denen er nichts wissen darf? Die typische Zwickmühle. Soziale Medien sind nicht kommunistisch, sagt er, sie sind etwas für Narzissten, Exhibitionisten, und sie sind reine Zeitverschwendung. Die Autorin verfasst sogar noch einen Hilferuf nach draußen! Ihr Mann löscht kurz danach alle ihre Dateien auf den Rechner – ihre gesamte Arbeit, alle Aufzeichnungen. Er ändert ihr Emailpasswort, beantwortet ihre Mails, nimmt ihr das Handy weg. Sie darf nur noch unter seiner Aufsicht hin und wieder telefonieren. Einen Zeitungsartikel knipst sie als SMS auf der Toilette während einer Feier, schickt die SMS hinaus, damit der Artikel fristgerecht eingeht – es wird zunächst ihr letzter Artikel sein. Er hat ihr ihre Worte genommen, ihre Stimme. Sie ist abgeschlossen von der Außenwelt, darf nicht mehr für die Öffentlichkeit schreiben. «Ich bin das hölzerne Schneidbrett, das auf die Arbeitsplatte knallt. Ich bin die klappernden Teller, die in die Schränke gefeuert werden. Ich bin das ungespülte Gas, das auf den Boden geworfen wird. … Das Krachen und der Anblick von unwiderruflich Zerbrochenem, während sich ein kleiner Tyrann einem Machtrausch hingibt.» Ihr Mann verprügelt sie wegen Nichtigkeiten. Seine notorische Eifersucht reicht ins Unermessliche. Sie ist keine Frau, sondern eine Hure, die bestraft werden muss. Zu wenig Salz, zu viel Salz, zu viel Fett, zu wenig Fett im Essen; Tellergeklapper, das ihn stört und vieles mehr. Er greift nach allem, was er in die Finger bekommt, das Kabel ihres Macs, ein Küchenbrett, ein Besenstiel, das Kabel des Staubsaugers, der Waschmaschinenschlauch – er vergewaltigt sie. Eines Tages hält er ihr das große Küchenmesser an die Kehle und sagt: «Ich bringe dich um!». – In Indien werden täglich Frauen von ihren Männern ermordet und ihnen geschieht nichts. – An diesem Punkt angekommen, läuft die Autorin fort. Der Roman ist in einer besonderen Form geschrieben, er berichtet nicht nur von den Ereignissen, sondern reflektiert mit Inneneinsichten das Geschehen. Wie konnte sie das alles zulassen, warum dauert es Monate, bis sie die Kraft hat, zu gehen? Dieser namenlose Mann erniedrigt sie, mit angeblichem Nichtwissen, macht sie klein, eine dumme Frau, die zu ihrem Professor aufblicken muss. In dem Buch gibt sie ihm keinen Namen, er bleibt ein Niemand, ein gekonnter Zug. Eine Frau hat zu gehorchen, sich unterzuordnen. Die Vertrauensfrage: Hast du mir etwas zu verheimlichen? Die eigene Erziehung und das Umfeld stecken tief in ihrer Seele. Wissen ist eins – handeln etwas anderes. Sie fühlt sich erniedrigt, versklavt, weggesperrt, sucht Schuld in sich selbst, im System. Ihr Selbstgefühl, ihre feministische Identität gehen verloren – am Ende auch ihre Sprache. Sie schaut von oben auf sich herab, nähert sich mit einem anderen ich und gelangt so langsam zu sich selbst zurück, zu ihrer Sprache und sie schafft den Bruch. Literarisch ist dieser Roman eine Perle. Meena Kandasamy ist Autorin, Übersetzerin und Aktivistin. Sie ist in Chennai geboren und lebt in London. Sie hat zwei Gedichtsammlungen sowie die beiden von der Kritik hochgelobten Romane «The Gypsy Goddess» (nominiert für den Dylan-Thomas-Preis und den DSC-Preis, dt. Reis & Asche, 2016) und «When I Hit You» (dt. Schläge) geschrieben, der auf der Shortlist für den Women’s Prize for Fiction, auf der Shortlist für den Jhalak Prize, auf der Shortlist für den The Hindu Literary Prize, auf der Longlist für den Dylan Thomas Prize steht.

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