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gwyn

Posted on 9.9.2020

«Ich habe diesen Krieg für mein Volk, meine Überzeugung und meine Gesellschaft, aus der ich heraus gewachsen bin, mitgemacht. Dann gab es keine Alternative. Ich kann nicht meine Familie verraten, indem ich einen Neger hineinschwindle und als Familienmitglied akzeptiere, weil ich sonst meine Selbstachtung verliere. Ich hoffe, dass du mich verstehst. Du lebst ja auch für deine Überzeugung gegen den Strom.» Die Mutter von Wencke Mühleisen ist Norwegerin, der Vater hat slowenisch-österreichische Wurzeln. Über den Krieg wurde in ihrer Familie nie geredet (wie wohl in den meisten Familien) – das lässt alle Fiktionen offen, vom Täter bis zum Opfer ist alles möglich. Und als sie beim Aufräumen den alten Brief ihres Vaters wiederfindet, der damals nicht zur Heirat ihrer Schwester erschienen war, beschließt sie, herauszufinden, wer ihr Vater wirklich gewesen ist. Wencke Mühleisen schließt sich in den 1970er-Jahren, 18 Jahre alt, der AAO-Kommune an (Aktions-Analytischen Organisation), die vom Wiener Aktionskünstlers Otto Muehl gegründet wurde und, zu den typischen Wagnissen der 70er-Jahre zählte. Sie umfasste in ihrer Blütezeit bis zu 600 Mitglieder. Moderne Ausdrucksformen in Anlehnung an die Psychoanalyse, die Körperanalyse von Wilhelm Reich, Gestalttherapie, Schreitherapie, dienten dazu, den Körper und die Emotionen befreien sollten, ein Gesellschaftsexperiment für ein neues Zusammenleben, alle Angst-, Scham- und Ekelgefühle sowie Tabus radikal zu durchbrechen. Mühleisen selbst gelingt in der ersten Sitzung der sogenannte Urmord, eine symbolische Tötung des Vaters durch Schreitherapie. Es ist die Nachkriegszeit – zwei schnell aufeinanderfolgende Weltkriege hatten Zerstörung hinterlassen, Diktatoren waren gestürzt worden. Die jungen Menschen wollten in Frieden leben. Es war die Zeit der Hippies und in Deutschland und Österreich wollte man sich von seinen Nazi-Vätern befreien; eins war aber überall gleich: Die jungen Menschen standen für Gleichheit, Brüderlichkeit, für Freiheit und Frieden, Frauenrechte und verachteten strenge alte Zöpfe, patriarchale und autoritäre Strukturen. Es war die Zeit der antiautoritären Erziehung, die der freien Schulen – die der freien Liebe; die von Martin Luther King, die der Friedensbewegung, die der ersten grünen Gruppen. . Wencke Mühleisen liebte das studentische Umfeld: Anarchisten, Spontis, Trotzkisten, religiöse Zirkel. Der Klamottenshop der AAO befand sich an der UNI, sie verkauften hauptsächlich Latzhosen. Man munkelte, in der Kommune der AAO gäbe es freien Sex, und Therapien zur Befreiung der Seele. Sie schaute sich eine Einführung an, erlebte Menschen, die plötzlich allen Vieren krochen, schrien und sich herumwälzten. Sie war fasziniert und abgestoßen zugleich. Neun Jahre lang lebte Wencke Mühleisen in dieser Kommune, um sich von ihrem autoritären Vater zu befreien – so wurde es ihr suggeriert. «Unser Ziel war die Erschaffung eines völlig neuen Menschen, der Grundlage einer neuen Art zu leben. Die Revolution des Selbst.» Es gab eine Kollektivideologie, die jungen Leute unterwarfen sich völlig dem charismatischen Otto Muehl, der circa 30 Jahre älter war als die Mitglieder der Kommune, die Jüngsten waren 16 Jahre alt. Und hier wie auch in der Nazizeit ermöglichte das Schweigen und Wegsehen der Masse ein ideologisch begründetes Verbrechen. Wencke Mühleisen sieht es heute als sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ihre Mutter war einmal zu Besuch und Muehl fragte sie nach ihrer Meinung zu der Kommune, sie antwortete: «Du kleiner Hitler» – viel mehr ist dem nicht hinzuzufügen. «Er war sozusagen der gute, aber auch strenge Vater … Er war aber auch Lebensgefährte und Sexualpartner. Und vor allem war er der Oberanalytiker.» Man wollte weg von der kleinbürgerlichen Spießerfamilie, sie zerstören, lehnte eine Mutter-Kind-Bindung ab. Man ging so weit, als Gruppe zu entscheiden, welche Schwangere ein Kind austragen dürfe, wann und wie sie ihr Kind sehen dürfe. An dem Punkt, als Otto Muehl Wenke Mühleisen ihre Tochter wegnehmen wollte, floh sie mit ihrem Kind und ließ die Kommune hinter sich. Später wurde Muehl wegen Missbrauch von Minderjährigen und Drogendelikten zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. «Aber das vielleicht Erschütterndste war die Verknüpfung, die er in dem Brief zwischen uns herstellte: ‹Du und ich› schien er zu sagen. ‹Wir beide.› Was hatte ich, eine linke Feministin, getan, dass ihn, ganz rechts stehend, dazu veranlasste, uns in einem einzigen Satz zu nennen und auf die gleiche Stufe zu stellen?» Als Wencke Mühleisen die Verwandten ihrer Familie väterlicherseits in Österreich und Slowenien aufsucht, erfährt sie viel über das Leid der Familie, findet Dokumente in Archiven und erhält den Brief ihres Großvaters. Nach dem 1. Weltkrieg wurde das vielsprachige Großreich Österreich-Ungarn zerschlagen, nur noch ein Restfundament Österreich blieb zurück vom mächtigen Reich, das damals aus folgenden Territorien bestand: Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und Teile der heutigen Staaten Rumänien, Montenegro, Polen, Ukraine, Italien, Serbien. Ihre Familie stammt aus Slowenien, das damals zur Steiermark gehörte. Die deutschsprachige Minderheit wurde nun verfolgt, viele bezahlten ihre Identität mit dem Leben, und so floh auch Mühleisens Familie nach Österreich, denn sie fühlten sich zugehörig zu diesem Staat, deren Pass sie trugen. Die Österreicher schickten sie aber zurück, und das Leben der Familie wurde im neuen Staat Jugoslawien fast unerträglich. In ihrer Identität zerstört, als deutsche Minderheit missachtet und unterdrückt, setzte sich der Großvater für seine Volksgruppe ein. So ist es auch nicht verwunderlich, dass diese Familie Adolf Hitler verehrte, der ein großdeutsches Reich errichten wollte. »Jetzt waren beide Täter tot – Muehl und mein Vater. Es gab nun nur noch mich.« Die Autorin zieht Parallelen. Ihr Vater verfing sich in Hitlers Theorien, glaubte einem autoritären Diktator, jemand, der das Unrecht, das seiner Familie angetan wurde, wieder geradebiegen wollte. Und sie selbst hatte ihm genau diese politische Gesinnung vorgeworfen – sich selbst einem Guru in die Arme geworfen, ihre Seele von den Gräueltaten ihrer Familie zu befreien. Wie ihr Vater, war sie der Überzeugung das Richtige zu tun, sich einer Ideologie zu unterwerfen, die letztendlich genauso autoritär und menschenverachtend war. Eine interessante Autobiografie, eine Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit, geschichtsträchtig, eine Warnung vor alles Gurus dieser Welt – egal, aus welcher Ecke sie stammen. Wencke Mühleisen, geboren 1953, hat eine norwegische Mutter und einen slowenisch-österreichischen Vater. Sie ist Schriftstellerin und arbeitet an der Universität Stavanger. Von 1978 bis 1989 war sie als Performance-Künstlerin aktiv und beschäftigte sich mit Themen wie Gender, Sexualität, Feminismus und Politik. Von 1976 bis 1985 lebte sie in Österreich in der Kommune von Otto Muehl.

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