wandanoir
Schachfigur(en) in den Wirren der Zeit Wer russische Folklore und Romantik a là Doktor Schiwago erwartet, muss von „Die Leben der Elena Silber“ enttäuscht sein. Aber wer relativ erwartungslos an den Roman herangeht, kann durch die Lektüre nur bereichert werden. Der Roman zeichnet, wenig überraschend, das Leben der Elena Silber auf. In Russland geboren, wird Elena zeitlebens eine Art Flüchtling sein. Was an den Zeiten liegt, in denen sie geboren ist, den Orten, an denen sie leben muss, an der Familie, in die sie heineingeboren wird, den Menschen, auf die sie treffen wird - und an den Herrschaftsstrukturen in den Ländern Russland und Deutschland. 1905-Revolution in Russland, 1918-Revolution in Russland, Lenin, Stalin. Das Leben der Menschen oft durch Zufall bestimmt, häufig keinen Pfifferling wert. Es kommt durch, wer den Mund hält, Glück hat und sich anpasst. Oder wer die Seiten wechselt. Oder wer brutal unterdrückt. Die Seele nimmt notwendigerweise Schaden. Man muss hart sein wie Stahl oder weich wie Wachs. Je nach den Gegebenheiten. Das hält keiner aus ohne zu zerbrechen. Aber man darf es nicht zeigen, denn das ist der sichere Untergang. Konstantin, als Vertreter der Enkelgeneration, die ihrerseits schon wieder Kinder gezeugt hat, versteht weder sich selber noch seine Eltern, besonders die mütterliche Seite nicht. Die fünf Töchter seiner Großmutter bleiben nebulös für ihn. Nebst seinem Mutterkomplex und tiefem Mitleid für seinen Vater, ist er unsicher, ein tapender Mensch, der an seiner Vergangenheit krankt, die er doch nicht genau genug kennt, um sie abzuhaken. An der Heldenbrust des Vaters, der einzigen männlichen Bezugsperson, findet er leider auch keinen Trost, weil der eben gar kein Held ist, wie die Mutter den Vater gnadenlos herunterbricht, fast zelebriert sie den Zerfall ihres Ehemannes. Das Leseerlebnis: Weswegen mir der Roman „Die Leben der Elena Silber“, der sehr gut geschrieben ist, völlig ohne Floskeln daherkommt und ohne Pathos erzählt wird, besonders ans Herz wächst, ist seine Realitätsnähe. Wann kennt man seine Familie denn richtig, wenn man erst einmal über die Elterngeneration hinausgeht? Welche Familienchronik ist lückenlos? Woher weiß man und in diesem Fall, woher weiß Konstantin, was wahr ist und was erfunden, erstunken und erlogen, aus der Not geboren zusammengeschwindelt wurde. Man kann nicht dahinterkommen. Es bleiben Lücken. Dieses Lückenhaft hat mir sehr gut gefallen. Gnädigerweise dürfen wir, die Leser, immer einen Blick mehr in die Familiengeschichte von Elena tun als der suchende Konstantin selber, der oft vor Mauern steht, mit seinen Forschungen nicht weiterkommt. Einige Dinge läßt uns Alexander Osang früh wissen, andere bleiben für immer in den Wirren von Revolution, Krieg und Flucht verborgen. Einige Leser haben geschrieben, die vielen Wiederholungen des Romans, die immergleichen Themen, die in den Dialogen zwischen den Figuren ständig aufgeworfen und verhandelt werden, würden sie nerven. Das ist bei mir nicht der Fall. Ich kann mich in die Köpfe der Figuren gut hineinversetzen, verstehe, wie dieselben Fragen immer und immer wieder umgewälzt werden und sich nicht vertreiben lassen. Ungefragt drängen sie bei Tag und Nacht ins Bewusstsein. Das ist so gut gemacht von Alexander Osang: Chapeau! Weder Konstantin noch wir haben die Lebensgeschichte Elenas völlig durchdrungen noch jeden Baustein der Silber/Steinschen Geschichte heben können. Ist es denn wirklich notwendig? Kann man nicht einfach die Gegenwart akzeptieren, wie sie sich darstellt? Schade, dass diese Frage gar nicht gestellt wurde. Trotzdem kam ich den Figuren sehr nahe. Sie haben mich an meine eigene Familiengeschichte erinnert. Sie haben mich nachdenken lassen, was ich über meine Großeltern eigentlich wusste. War mein Großvater ein Nazi? No idea. Meine Tanten waren jedenfalls alle in der Hitlerjugend. Zu spät, um jemanden zu fragen. "Leben", sagt Elena, zu ihrem Enkel eines schönen Tages, sie habe ja mit 15 gedacht, sie wüssste, wie Leben geht. Aber „Leben ist anders, ganz anders.“ Da hat sie nur allzu recht! Die Kritik darf nicht fehlen. 200 Seiten weniger hätten es auch getan und es sind zu viele Vergleiche. Insgesamt fallen diese kleinen Mängel aber nicht ins Gewicht. Fazit: Eine sehr reale Story über eine Familiengeschichte, die gut aufgebaut und durchdacht ist. Russlands Willkürherrschaft, Hitlers Deutschland, alles eher am Rande behandelt, aber dennoch prägend für jeden, der in diesen Zeiten leben musste, faszinierend. Wie Schachfiguren herumgeschoben, so ist Elenas Familie. Und nicht nur sie: denn letztlich sind wir alle Figuren des jeweils gerade gespielten Aktes der Menschheitsgeschichte, ob als Könige oder Bauern, durch Zufall hierhin- oder dorthin geschubst. Kategorie: Anspruchsvoller Roman Verlag: S. Fischer, 2019 Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, 2019