mabuerele
„...Ich könnte nicht leben ohne das alles hier, ohne die Pferde, ohne die Hunde, ohne die Störche, ohne die Wiesen, ohne den Wald und die Seen. Ach Elli, auch wenn ich manchmal mit meiner Mutter oder Marianne zanke, ich könnte Ostpreußen niemals auf immer verlassen…“ Als die 16jährige Dora Twardy diese Worte zu ihrer besten Freundin spricht, ahnt sie nicht, was das Leben für sie bereit hält. Noch ist alles Freude und Leichtigkeit. Wir schreiben das Jahr 1939. Für die Erwachsenen gibt es am 1. September ein erstes Ahnen, dass dunkle Zeiten auf sie zukommen. An diesem Tag heiratet Doras Cousine Grete. Und Dora hofft, dass sich Wilhelm von Lengendorff mit ihr verlobt. Doch die Hochzeit wird jäh unterbrochen, als die Nachricht kommt, dass Deutschland in Polen einmarschiert ist. Die ältere Generation weiß aus dem Ersten Weltkrieg, was das bedeutet. Die Autorin hat einen fesselnden Familienroman geschrieben. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen. Die Personen werden gut charakterisiert. Dora ist eine hübsche junge Dame. Das weiß sie, und das nutzt es gegebenenfalls zu ihren Vorteil. Häusliche Arbeiten allerdings sind ihr ein Graus. Sie ist sportlich und reitet vortrefflich. Das Leben ist für sie noch ein Spiel. Sie möchte ihren Willen sofort durchsetzen und kann ein Nein nur schwer akzeptieren. Wilhelm von Lengendorff wird einst den Hof und das Gestüt seiner Eltern erben. Er hat Pläne für die Zukunft, ist aber Realist genug, um zu wissen, dass der Krieg ihn die durchaus zerstören kann. Deshalb bleibt er vernünftig und erläutert Dora, dass momentan keine Zeit für eine Verlobung ist. Sehr anschaulich beschreibt die Autorin das Leben in Ostpreußen. „...Die harte Zeit der Roggenernte war vorüber, keine Mähmaschine klapperte auf den mehr Feldern, und auch das Dengeln war verstummt, dieser helle metallische Klang, der an den ostpreußischen Sommerabenden die Luft erfüllte, wenn die Bauern ihre Sensen auf den Amboss legten und mit gleichmäßigen Hammerschlägen auf die Schnittflächen für den Einsatz am nächsten Tag schärften...“ Das Zitat zeigt gleichzeitig den ausgewogenen Schriftstil, der auf Genauigkeit setzt und passende Metapher findet. Der erste Einschnitt in Doras Leben kommt nach dem Ende der Schulzeit. Ihr Onkel Hermann wurde plötzlich Witwer. Da die Familie zusammenhält, hat Doras Vater bestimmt, dass sie sich um dessen Haushalt und seine kleinen Kinder in Königsberg kümmert soll. Dort lernt Dora den Fotografen Curt von Thorau kennen. Er zeigt ihr in ihrer wenigen Freizeit das Stadtleben. Der Krieg ist weit weg. Seine einzigen Spuren sieht man daran, dass nach und nach immer mehr Männer eingezogen werden. Wilhelm zum Beispiel ist in Frankreich. Doras Bruder Hans geht freiwillig zu den Fliegern. Sein Vater ist dagegen, kann aber nichts machen. „...Dazu brauche ich eure Genehmigung nicht. Ab achtzehn kann man sich melden. So stand es in der Zeitung...“ Als der Onkel wieder heiratet, kehrt Dora ins Dorf zurück. Ich darf verfolgen, wie aus dem unbeschwerten und zum Teil egoistischen jungen Mädchen eine Frau wird, die sich den Anforderungen der Zeit stellt und in vielen Situationen über ich hinauswächst. Mittlerweile wurde auch der Vater eingezogen. Sehr behutsam und detailliert schildert die Autorin Doras Entwicklung und bettet sie ein in die gesellschaftlichen Verhältnisse. Es dauert lange, bis man in Ostpreußen wirklich begreift, welche Folgen der Krieg hat. Gut, es gibt materielle Einschränkungen, aber die Kämpfe und die Bombenangriffe sind weit weg. Auf dem Gut geht das Leben seines Gang. Fremdarbeiter ersetzen die Einheimischen. Zu den stilistisch und inhaltlichen Höhepunkten gehört für mich ein Gespräch zwischen Curt und Dora. Er versucht, ihr die Augen zu öffnen, denn als Kriegsberichterstatter weiß er, was wirklich Sache ist. “...Ja, so schreiben es die Zeitungen. Aber glaub mir, Dora. Kein Wort davon ist wahr. […] Seit der Niederlage von Stalingrad ist es vorbei. Die Russen marschieren gen Westen, als wären die tapferen deutschen Soldaten nur Streichhölzer in der Landschaft...“ Es sind die vielen kleinen Szenen, die das Buch zu etwas Besonderen machen. Mal sachlich, mal voller Gefühl wird deutlich, welche Entscheidungen notwendig sind und was für Folgen sie haben. Erst als Dora selbst den Schrecken der Bombennacht von Königsberg erlebt, kann sie die Angst ihrer Cousine in Hamburg nachvollziehen. Ihre Mutter war stets für Haus und Kinder zuständig. Deshalb liegt die Last der Entscheidungen auf Dora. Glücklicherweise war sie schon früher dem Vater auf dem Gut zur Hand gegangen. Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Allerdings sollte man sich von dem Text auf der Rückseite nicht irritieren lassen. Er entspricht nicht den Tatsachen. Das ändert aber nichts daran, dass der Autorin ein beeindruckendes Epos über eine noch gar nicht so lange zurückliegende Vergangenheit gelungen ist.