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Posted on 8.9.2020

Poetische Mathematik Es gibt sie noch, die kleinen feinen Romane, die die Tür zu einem anderen Universum öffnen. Michael Wildenhain nimmt einen in „Die Erfindung der Null“ mit in ein solches Abenteuer. Sprachlich eloquent und fantastisch perfide konstruiert, bringt er sowohl die Poesie und Faszination der Mathematik wie auch den Charakter und die Denkweise seines Protagonisten in diesem großartigen und, trotz überschaubarer Seitenzahl, komplexen Roman heraus. Ausgerechnet Mathematik, die mir ja völlig fremd ist, speziell jene, die ein verkrachter, aber früher hochtalentierter Doktor dieses Fachgebiets beherrscht, wobei eher die Welt der Mathematik und der Zahlen es ist, die sein Denken und daraus folgend auch Fühlen dominiert. Dr. Gödeler lebt in einem Loch. Einer vermufften, verdreckten Souterrainwohnung im Bohnenviertel im Stuttgarter Talkessel. Er hat es nicht so mit der Hygiene, finanziell geht es ihm gut, er hat einen Job als Nachhilfelehrer an einer Schule. Peu à peu entblättert sich sein Leben und die Umstände seiner Verhaftung durch einen jungen aufstrebenden Staatsanwalt. „In den Wochen der Verhöre, des Beieinanderseins, entsteht, so der Staatsanwalt, zwischen den beiden Männern eine Atmosphäre eigenartiger Vertrautheit, die über das erwartbare Maß hinausgegangen sei. Trotzdem, darauf wird der Beamte stets beharren, sei ihm Dr. Gödeler seltsam fremd geblieben. Häufig habe er sich gewünscht, dem des Mordes Verdächtigen nie begegnet zu sein.“ Ein wenig sympathischer Mensch ist er, dieser Dr. Gödeler, der zwiespältige Emotionen beim Lesen hervorruft. Von Abscheu bis hin zu Ekel, Faszination, völligem Unverständnis, Mitgefühl und Mitleid. Kommt ihm bei seinen Affairen, Lieben und Beziehungen doch immer wieder seine ursprüngliche alles auslöschende Liebe zur Mathematik in die Quere: „Wenn ich, Mal um Mal, feststellen muss, dass sie Mathematik für bloßen Hokuspokus hält und im Begriff ist, die Aufklärung an die Magie zu verraten.“ Der Vergangenheit und den Taten des Doktor Gödeler nähert man sich als LeserIn kleinteiligen Bruchstückchen, darf sich alles zusammensetzen und entscheidet selbst, ob es passt. Dabei werden die Stationen seines Lebens anhand der Menschen, weniger der Orte, erhellt. Die Reise mit Susanne, seinem vermuteten Mordopfer, nach dem wunderbaren Städtchen Castellane an die Gorges du Verdon in der Haute Provence war für mich etwas Besonderes, da ich die Gegend kenne und selbst in der Schlucht gewandert bin. Das erhöhte den Spannungsfaktor. Der Roman braucht dies aber mit seinen unerwarteten Wendungen und den seltsamen Gestalten, die Gödeler am Nachhilfeinstitut antrifft, nicht. Dennoch schön, auf die Route Provence -Stuttgart zu treffen. 😉 Die Erzählperspektiven wechseln von Gödeler zum auktorialen Erzähler. Ein Hinweis könnte des Doktors Name sein, der stark an Kurt Gödel https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_G%C3%B6del erinnert, dessen Arbeiten zur Vollständigkeit und Beweisbarkeit die Struktur und Form der Ich-Erzählung möglicherweise geprägt haben. Wobei ich mich hier wirklich sehr weit aus dem Fenster lehne, denn Mathematik ist etwas, dessen Faszination ich zwar staunend betrachte, aber niemals verstehen werde. Gödeler hingegen hat diese Wissenschaft durchdrungen, auch wenn es mit seiner Habilitation hapert, und das seit Jahren. Wie es dazu kam, dass er unter diesen unwürdigen Umständen existiert und nicht die angestrebte Rockstarexistenz (Bereich Mathematik) seiner Jugend führt, das erzählt der Autor in einer derart soghaften und teils rauschhaften Sprache und Art, dass man „Die Erfindung der Null“ nicht mehr weglegen möchte. Michael Wildenhain verwendet kein Wort zu viel und es lohnt sich, langsam und akkurat zu lesen, nachhallen zu lassen, auch wenn man unbedingt wissen möchte, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Ich habe auch mehrmals zurückgeblättert, Seiten erneut gelesen, weil ich anfangs nicht genau verstanden habe, was mir da erzählt wurde, wie gesagt, was Mathe anbelangt, bin ich blöde, dennoch war dieser genreübergreifende Krimi, Thriller, Familienroman oder Charakterstudie das Beste, was mir seit Langem unter die Augen kam. Ein Lesehighlight 2020. Unbedingt empfehlenswert, für alle, die sich in einem anderen Universum wiederfinden möchten, ohne zu Fantasy oder Science Fiction zu greifen, und die raffinierte Geschichten zu schätzen wissen.

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