Dreamworx
"Zu Münchens schönsten Paradiesen zählt ohne Zweifel seine Wiesn." (Eugen Roth) Das 31-jährige Schankmädchen Colina hat vor ihrem gewalttätigen Ehemann Reißaus genommen und ihren Sohn Max bei Freunden untergebracht. Mit List und Tücke ergattert sie eine Anstellung beim fränkischen Bierbrauer Curt Prank als Gouvernante für dessen 19-jährige Tochter Clara. Prank möchte unbedingt auf dem Münchner Oktoberfest an Einfluss gewinnen und ein kürzlich erlassenes Gesetz umgehen, Clara soll seine Eintrittskarte sein und eine arrangierte Heirat eingehen. Aber Clara denkt gar nicht daran, sich verschachern zu lassen. Deshalb flieht sie aus dem elterlichen Haus, was einem Skandal gleichkommt, während Colina aufgrund der Vernachlässigung ihrer Pflichten ihre Anstellung verliert und sich erneut als Schankmädchen auf dem Oktoberfest verdingen muss… Petra Grill hat mit „Oktoberfest 1900-Träume und Wagnis“ einen unterhaltsamen historischen Roman vorgelegt, der für die gleichnamige ARD-Serie als Vorlage dient, die noch in diesem Jahr ausgestrahlt werden soll. Der flüssige und farbenfrohe Erzählstil lässt den Leser 120 Jahre zurück in die Vergangenheit reisen, um im damaligen München auf Colina zu treffen, die sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Die Autorin stellt ihre Ortskunde mit einigem Lokalkolorit sowie guter historischer Hintergrundrecherche unter Beweis, beides verleiht der Geschichte eine gewisse Authentizität. So gibt Grill einen guten Einblick in die damalige Münchner Gesellschaftsschichten und deren Arbeits- und Lebensbedingungen sowie über die politische Lage. Colina muss sich als Schankmädchen so einiges gefallen lassen, sexuelle Belästigung gab es auch damals schon, wurde allerdings damals nicht thematisiert. Frauen waren Freiwild, entweder als Kellnerin, die sich während ihrer Arbeit begrapschen lassen musste, aber auch als junge Frau, die sich den Plänen des Familienoberhauptes zu fügen hatte. Zudem bestand der Lohn der Schankmädchen nur aus dem erworbenen Trinkgeld, der Wirt zahlte ihnen nichts, was viele zu verzweifelten Taten trieb. Ebenso interessant ist die Tatsache, dass auf dem Oktoberfest früher Wirtsleute mit Schanklizenz ihr Geschäft betrieben, die großen Brauereien allerdings nicht vertreten waren. Diese kauften nach und nach die Wirte auf, um deren Schanklizenzen für sich selbst zu nutzen und so das Oktoberfest nachhaltig zu verändern. Aus der damals gemütlichen Wiesn ist ein heute ein kommerzieller Riesenrummel geworden. Spannung erzeugt die Autorin nicht nur mit ihren lebhaften Protagonisten, sondern auch mit Todesfällen, die zu einiger Unruhe auf den Festwiesen führen. Mit wechselnden Perspektiven zwischen Colina und dem Polizisten Lorenz Aulehner wird nicht nur der Spannungsbogen immer weiter angehoben, sondern liefert dem Leser auch einen guten Einblick in die jeweilige Lebens- und Arbeitswelt. Die Charaktere sind lebhaft und glaubwürdig zugeschnitten, ihnen wurde regelrecht Leben eingehaucht. Mit ihren menschlichen Zügen können sie den Leser schnell überzeugen, der sich ihnen gern anschließt. Colina hat das Herz am rechten Fleck, ist etwas ausgebufft, mutig und lässt sich so schnell nichts vormachen. Lorenz Aulehner ist ein ehrlicher, aufrichtiger Mann, der privat selbst seine Päckchen zu tragen hat. Clara ist eine verwöhnte junge Frau, die erst etwas naiv und weltfremd wirkt, um den Leser dann mit Stärke und Selbstbewusstsein zu überraschen. Aber auch Eder und Prank sowie einige andere tragen zum Unterhaltungswert der Handlung bei. „Oktoberfest 1900-Träume und Wagnis“ ist ein unterhaltsamer historischer Roman angefüllt mit intriganten Machenschaften, Familiengeheimissen, Mord und viel Lokalkolorit, so dass der Leser sich auf einen interessanten Wiesnbesuch freuen kann. Verdiente Leseempfehlung!