SternchenBlau
In diesem Hotel habe ich mich wie in einer zeitlosen Blase gefühlt, als wäre es aus der Zeit gefallen. Gleichzeitig ist die zentrale behandelte Frage sehr modern: Was fängt eine Frau mit ihrem Leben an – bei all den gesellschaftlichen Erwartungen, derer sie sich gegenüber sieht? „Das Ergebnis von alledem war, dass Edith sich wieder von Neuem die Frage stellte, welches Verhalten einer Frau am angemessensten sei, die Frage, um die es in fast allen ihren Romanen ging, die Frage, die sie mit Harold Webb zu diskutieren versucht, die sie nicht zu beantworten gewusst hatte und die sie nun als geradezu lebenswichtig erkannte.“ Anita Brooker bedient sich eines Kunstgriffes, indem sie diesen zeitlosen, stellenweise antiquierten Raum des Hotels erschafft. Was die Protagonist:innen sagen und denken und wie sie sich verhalten, entspricht nicht ihrer Haltung. Gerade weil die Figuren wie aus antiquierten Zeiten entstiegen sind, war ich manchmal am Grübeln, wie ich das Buch als Feministin einordnen soll. Vor allem, wenn Frauensolidarität hinterfragt wird. „Es war der Umgang mit dem eigenen Geschlecht, überlegte Edith, der viele Frauen in die Ehe trieb. So war es bei ihr gewesen.“ Ein Mann bekommt eine Art feministischen Diskurs als Dialog: „Ganz einfach dies. Ohne gewaltige Gefühlsbesetzung kann man tun, was immer einem gefällt. Man kann Entscheidungen treffen, es sich anders überlegen, seine Pläne ändern. Ohne die ängstliche Besorgnis, ob dieser andere Mensch auch alles hat, was er begehrt, ob er nicht unzufrieden, ärgerlich, unruhig, gelangweilt ist. Man kann so nett oder so grob sein, wie man will. Wenn man so weit ist, das Einzige tun zu können, was einem von frühester Kindheit an abgewöhnt wurde – einfach zu tun, was einem Spaß macht –, gibt es keinen Grund mehr, warum man je wieder unglücklich sein sollte.“ Es ist die Summe der Teile und die Quintessenz, die Brookers Haltung zeigen. Scheinbar passiert in diesem Buch sehr wenig, das liegt nicht allen Lesenden, darauf sollte man sich aber einstellen: Edith wird nach einem „Fehltritt“ von ihrem Umfeld für einige Wochen in ein Schweizer Hotel geschickt. Schon das Konzept dahinter wirkt antiquiert, so wurde mit höheren Töchtern verfahren, die in der Fremde dann ihre unehelichen Kinder entbunden haben, um dann von „der Schmach“ entbunden, wieder in ihre gesellschaftlichen Kreise zurückkehren konnten. Dieser Fakt schwingt für mich mit, auch, wenn der Roman viel später spielt. Erschienen ist er 1984, aber wenn ich ihn lese, verorte ich ihn vielleicht in die 1960er oder auch in die 1970er. Wenn ich am Ende angekommen bin, weiß ich, dass viele Frauen sich auch heute noch erst vollständig fühlen, wenn sie „in den Hafen der Ehe“ eingelaufen sind. Wann der Roman also genau spielt, wurde für mich beim Lesen daher schnell zweitranig Edith zweifelt an diesem Konzept der Ehe, dann aber auch wieder nicht. Sie sieht sich selber oftmals in der Rolle einer grauen Maus, obwohl sie sehr selbstbewusst und selbstbestimmt lebt. Sehr positiv fand ich ihre „Sex Possitivity“, obwohl das Thema Sex immer nur angeschrammt wurde. Die feministische Quintessenz fand ich letztendlich sehr gereift, ohne, dass ich das Ende spoilern möchte. Zwei, drei Sachen haben sich für mich nicht ganz gelöst, wie ich die Ereignisse interpretieren soll. Dazu gefallen mir Brookers Beobachtungen sehr gut und ihr Blick für Details: „Und als sie in ihr Schlafzimmer voranging, wies Mrs. Pusey mit einem Lächeln auf ein dicht mit Spitzen überkrustetes Négligé aus austernfarbenem Satin hin, das über eine Stuhllehne drapiert war.“ Und dazu Books feiner Witz: „»Ach, meine Liebe, die mit den wirklichen Geschichten bin ich«, hörte sie gerade noch Penelope sagen. »Ich wundere mich, dass sie mich nicht in einem Buch verwendet.« Das habe ich doch, dachte Edith. Du hast dich nur nicht wiedererkannt.“ Was ich sehr schade fand, war das der Verlag dem Buch ein Vorwort voranstellt. Wenn es eine Kommentierung geben soll (die bei manchen Werken wirklich hilfreich sein können), möchte ich sie am Ende haben. So bin ich in die ersten Seiten von Elke Heidenreichs Vorwort hineingeworfen worden. Die fand ich nicht schlecht, habe mich dann aber entschieden, erst zum Roman überzugehen, weil ich mir vor dem Lesen ungern eine Interpretationsbrille aufsetzen lassen möchte. Und weil für mich die Reihenfolge vertauscht war, wollte ich dann nach der Lektüre nicht mehr zum Vorwort zurück. Weil ich meine ganz eigene Interpretation gefunden habe. Fazit Gefiel mir sehr gut, vor allem, da hier das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Eine Empfehlung für alle, die die Dynamik in etwas nur scheinbar Ereignislosem entdecken wollen. 4 von 5 Sternen.