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mrstrikehardt

Posted on 29.8.2020

Was sind die roten Stellen? Die Antwort kann Maggie Nelson nicht geben oder nur in Andeutungen in ihrer Autobiographie eines Prozesses. 36 Jahre nach dem grausamen Mord an ihre Tante Jane (die sie nie kennengelernt hat) wird aufgrund einer DNA-Analyse der Mörder festgenommen. Nelson begibt sich auf Spurensuche, wie der Mord ihre Mutter und durch sie hindurch sie selbst geprägt hat. Nelson hatte selbst mehrere Jahre recherchiert und ein Gedichtband über Jane geschrieben in der Hoffnung, alles zur Sprache zu bringen und somit den Fall abschließen zu können. Dann kam der Anruf zur Festnahme des Mörders und alles fing von vorne an. Nelson begleitet den Prozess, hört die Ausführungen der Beamten und einzelner Zeugen aus jener Zeit (die beschämt, traumatisiert vom Leichenfund erzählen) und setzt das Gesehene und Gehörte zu sich, ihrer Familie und der amerikanischen Gesellschaft ins Verhältnis. Sie lässt sich fürs Fernsehen interviewen, obwohl sie die Sensationslust, das Reißerische der Sendung ablehnt. Das Buch ist eine Memoir und dementsprechend persönlich und reflektierend unter Rückgriff auf philosophische und literaturwissenschaftliche Diskurse. Es geht um vieles, u.a. um die Todesstrafe, den Erfolg der True-Crime-Industrie und die Grenzen des Sagbaren. Als Autorin hat sich zum letzterem am meisten zusagen, erzählt von ihrer Hybris das Geschehene mit den richtigen, präzisen Worten zu bannen und dessen Scheitern. Dementsprechend werden mehr offene Fragen gestellt als Antworten gegeben. Der Text springt vor und zurück, um Erinnerungen Raum zu geben. Lediglich an einigen Stellen ist der Ton zu pathetisch (bspw. bei den Schilderungen ihrer Träume) oder ihre Aussagen sind allzu banal (ja, wir alle werden allein sterben und mögen uns nie in das Sterben einfühlen). Was der Memoir geschuldet ist und sich als Schwachpunkt erweist, sind die wenigen Sachinformationen. Ich hätte es sehr begrüßt, wenn sie mehr über das Geschäftsgebaren der True-Crime-Medien (Autoren, Verlage wie Fernsehsender) geschrieben hätte oder über das amerikanische Rechtssystem.

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