mrs.misery
Ein kleines Dorf mit dem Namen „Unterleuten“ in Brandenburg: Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Einfamilienhäuser und Nachbarn, die sich auf der Straße grüßen, prägen das Bild. Doch der Ortsname ist von Zeh nicht zufällig gewählt. Aus „Unterleuten“ ein „Unter Leuten“ zu formen, liegt nahe und bringt wohl auf den Punkt, warum dieser Roman ein Bestseller geworden ist. Denn in diesem verschlafenen Örtchen, will eine Investorenfirma einen Windpark bauen. Klingt nicht sonderlich spektakulär, ist für eine derartige Provinz jedoch kaum vorstellbar. Dass das nicht auf einheitliche Zustimmung stößt, ist vorherzusehen - was hinter den Fassaden der Anwohner steckt, jedoch nicht. Dieses Szenario dient als Ausgangslage des Romans. Fortan werden die BewohnerInnen des Dorfes nacheinander beschrieben - sie selbst und ihre Beziehungen zu einander. An diesem Gerüst hangelt sich der Plot entlang, welcher jedoch hauptsächlich auf der Figurenentwicklung basiert. Eine kurze Inhaltsangabe ist dadurch kaum möglich, wenn wir sprechen hier von über 20 Figuren, die tatsächlich auch wichtig für die Handlung, für das Dorf sind. Nun kannst du dich fragen, was wohl die Moral der Geschichte sein mag, wenn es weniger um den Tatverlauf, als viel mehr um die BürgerInnen geht. Schließlich ist „Unterleuten“ doch ein relativ unspektakulärer Ort, mitsamt seinen Bewohnern, die zugegebenermaßen alle ihr Päckchen zu tragen haben. Doch genau DAS ist wohl des Pudels Kern. Wir haben ALLE unser Päckchen zu tragen und können uns mit den Figuren des Ortes identifizieren. Doch dabei bleibt es nicht. Leider kann man sich auch allzuoft in ihren negativen Attitüden wiedererkennen - wir bekommen einen Spiegel vorgehalten. Halt dir nur einmal Kommentare in den sozialen Netzwerken vor Augen oder erinnere dich an ein paar Gespräche auf dem letzten Wochenmarkt oder im Bus - fast schon lächerlich, für wie wichtig wir uns halten und wie uninteressant unsere Äußerungen doch in Wahrheit sind. Der Umgang miteinander, geprägt von Missgunst und Wut, ist doch nichts anderes als die eigene Unsicherheit, die auf andere zu projizieren versucht wird. Und genau so sind eben auch die BewohnerInnen des fiktiven Ortes Unterleuten: Obwohl die BürgerInnen teilweise kaum etwas über das Gegenüber wissen, wird vermutet, geredet und verurteilt. JedeR hält sich selbst für den Nabel der Welt und seine eigenen Probleme für die wichtigsten. „Unterleuten“ ist eine hervorragende Kritik an der Gesellschaft, ohne selbige dabei mit erhobenem Zeigefinger zu richten. Vielmehr passiert all das vorrangig zwischen den Zeilen. Subtil lässt Zeh eine sarkastische Ader einfließen, die teilweise auch nur auf den zweiten Blick zu erkennen ist. Eingeschlagen wie eine Bombe, kann man sich manchmal nicht entscheiden, ob man lachen oder weinen soll. Vermutlich ist beides richtig. Der Schreibstil ist m.E. besonders gelungen. Die genutzte Sprachebene ist nicht einfach, sondern geprägt von einigen Fremdwörtern und einer allgemein gehobenen Sprache. Das wird nicht jedem gefallen, ist bei einer solchen Abhandlung jedoch vonnöten. „Unterleuten“ ist kein netter Jugendkrimi für zwischendurch, sondern eine Würdigung und der gleichzeitige Verriss unserer Gesellschaft. Dennoch überfordert die Sprache nicht. Obschon ein „Überfliegen“ kaum möglich sein wird um alles in Gänze zu verstehen, finden wir auch keine unnötig kompliziert konstruierten Schachtelsätze, die den Spaß am Lesen zunichte machen. Neben Themen wie Weltschmerz (der doch nichts anderes als die Verwechslung mit dem alltäglichen Frust zu sein scheint), Gentrifizierung, Verurteilung oder der Generation Y, finden auch Elemente wie Feminismus, Helikopter-Eltern und Tod ihren Platz. Alles Themen, die nach wie vor hochaktuell sind und gerade deswegen einer kontroversen Diskussion bedürfen. Pointiert bringt die Autorin jedes Klischee auf den Punkt, ohne dabei in eine plakative Ebene zu rutschen. Der Aufbau des Romans kommt uns LeserInnen sehr entgegen. Gegliedert in sechs Teile, sind die jeweiligen Unterkapitel recht kurz, sodass man nicht von der Anzahl der Seiten „erschlagen“ wird. Außerdem sind die Kapitelüberschriften mit den jeweiligen Namen des Bewohners versehen, sodass auch hier eine übersichtliche Struktur gegeben ist, da sofort ersichtlich wird, aus welcher Perspektive die folgenden Seiten geschrieben sind. Am Ende des Romans ist für die LeserInnen ein Namenregister angehängt. So kannst du noch einmal schnell nachsehen, wenn dich die verschiedenen Namen etwas verwirrt haben. Zu jeder Figur sind dort ein paar wenige Sätze vermerkt, die dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Außerdem befindet sich ebenfalls im Anhang das Inhaltsverzeichnis. So ist es jederzeit möglich, ein bestimmtes Kapitel wiederzufinden beziehungsweise sich zunächst erst einmal einen Überblick über dieses Buch zu verschaffen. Trotz oder aufgrund der hohen Informationsdichte, ist der Roman m.E. teilweise sehr zäh zu lesen. Eine Spannung aufzubauen, war vermutlich von vornherein nicht der Anspruch, ist jedoch für mich der fehlende Faktor, um ein Buch nicht aus der Hand legen zu wollen. Die Detailverliebtheit der Autorin, ihre Eloquenz und die präzise formulierten Habitus, machen definitiv den Charme des Buches aus, ersetzen für mich jedoch nicht fehlende Geschehnisse - fernab der rein deskriptiven Entwicklungen der Protagonisten.