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mrs.misery

Posted on 28.8.2020

Wäre es nicht manchmal ganz wunderbar, wenn wir von manchen Büchern, die mit einem Happyend enden, noch ein bisschen mehr erfahren würden? Was passiert denn danach?  Und nun stellen wir uns mal vor, dass das Buch damit endet, wie eine junge Frau aus jahrelanger Gefangenschaft endlich aus der Gewalt ihres Peinigers fliehen kann und plötzlich wieder vor ihrem Elternhaus steht. Ein tolles Happyend. Oder?  Aber gerade JETZT wird es doch besonders spannend! „Babydoll“ von Hollie Overton setzt genau dort an, wo die meisten Thriller und Krimis enden. Zunächst werden wir im ersten Kapitel in den Bann der dramatischen Flucht gezogen. Die Protagonistin Lily Riser ist Mitte Zwanzig und wurde im Alter von 16 Jahren entführt und seitdem von ihrem Peiniger gefangen gehalten - körperlich und seelisch schwerst misshandelt.  Aus den sexuellen Übergriffen ist sogar ein Kind entstanden: Sky ist mittlerweile vier Jahre alt, durfte noch nie den Regen auf ihrer Haut oder das Gras und ihren Füßen spüren und Lilys einziger Grund zu leben.  Und plötzlich ist dieser Tag da, an dem ihr Peiniger einen Fehler macht und Lily mit ihrer Tochter fliehen kann. In kürzester Zeit schießt der Spannungsbogen nur so in die Höhe. Obwohl wir die Protagonistin noch gar nicht kennen, KANN man nur hoffen, dass sie ihr Martyrium endlich überstanden hat. Sie sieht ihre Familie und Freunde wieder und kann mit polizeilicher Hilfe den Täter überführen  - ein großartiges Gefühl der Genugtuung, welches nicht nur die Protagonistin übermannt.  Das Empfinden, diesen Kampf gewonnen zu haben, hält jedoch nicht besonders lange an, als sie Schritt für Schritt erfährt, was sich alles in den vergangen Jahren geändert hat.  Denn auch ihre Familie und Freunde haben versucht, diesen Schicksalsschlag zu überwinden und ihre Leben fortzuführen.  Lily erfährt, dass ihr Vater den Verlust seiner Tochter nicht überlebt hat.  Ihre Mutter flüchtet sich in wilde Affären. Dass sie ihre erste große Liebe jemals wiedersehen wird, glaubt Lily sowieso nicht mehr. Und dann ist da noch ihre Zwillingsschwester Abby - ihre bessere Hälfte, unzertrennlich bis ins Mark - die ihr etwas zu beichten hat, das die Situation noch um einiges verkomplizieren wird.  „Babydoll“ ist m.E. eine Mischung aus einem Familien- und einem Entwicklungsroman. Denn im Mittelpunkt steht eindeutig die Protagonistin Lily und ihre Auseinandersetzung mit sich und ihrer Umwelt – und damit ihre seelische Entwicklung nach dieser dramatischen Lebensgeschichte. Gleichzeitig steht aber auch ihre Familie, allem voran ihre Zwillingsschwester Abby im Fokus, sowie ihre Beziehungen zueinander.  Zusätzlich finden wir immer wieder Einflüsse aus dem Genre des Thrillers. Der Einstieg und die Thematik sind nichts für schwache Nerven. Overton verzichtet zwar auf plastische oder detaillierte Schilderungen, doch weiß sie dennoch geschickt hin und wieder das Angstzentrum ihrer LeserInnen anzuregen. Und das, trotz einer relativ langsamen Erzähldynamik. „Babydoll“ ist kein spannungsgeladener Roman im herkömmlichen Sinne, mit Cliffhangern und überraschenden Wendungen.  Vielmehr befriedigt es unsere Neugier, ja fast schon voyeuristische Ader, diesem Tabuthema ein Stück näher zu kommen. Gleichwohl dieser Roman rein fiktional ist, besticht er durch seine Authentizität und dem Gefühl, einem Mysterium, über das nicht gesprochen werden darf, auf die Spur gekommen zu sein.  Die Charakterdarstellungen sind sehr gelungen – zu fast jeder Figur kann man eine gute Beziehung herstellen. Dafür sind in einigen Passagen die Handlungen m.E. etwas zu holprig, wirken nicht authentisch genug. Sicherlich kann niemand von uns einschätzen, wie sich die Personen in einer solchen Ausnahmesituation fühlen und wie sie handeln werden. Dennoch sind manche Angelegenheiten nicht ganz nachvollziehbar.  Positiv ist vor allem auch der Wechsel der Erzählperspektiven. Wie oben erwähnt, legt dieser Roman Wert auf mehr als eine Person, obschon Lily unumstößlich die Protagonistin bleibt.  So wechselt der Blickwinkel dennoch auch zu anderen Charakteren - nicht zuletzt zum Täter, der durch sein krudes, psychopathisches Denken die LeserInnen ebenso in seinen Bann zu ziehen weiß.

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