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Babscha

Posted on 27.8.2020

Max Remark, die zentrale Figur dieses Buches, ist ein Mann Mitte vierzig, der in New York als Modefotograf arbeitet und ein exzessives Leben aus Alkohol, Drogen und Sex führt. Seine dunkle Vergangenheit, die sich, zwar tief vergraben in seinem Innern, dennoch allumfassend über sein immerzu betäubtes Leben legt, liegt in einem Kaff im Ruhrgebiet, wo er im Umfeld zweier weit verzweigter Familienclans aufgewachsen ist und das er nach dem überraschenden frühen Tod seiner Mutter schlagartig verlassen hatte. Weit über 20 Jahre sind seitdem vergangen ohne jeden Kontakt zu seiner Familie. Irgendwann erhält er einen Anruf von seiner älteren Schwester Marie, die ihm mitteilt, dass sein Zwillingsbruder Nikolas, seit dessen Kindheit ein hochkomplizierter, kontaktgestörter Mensch, der immer noch bei dem unsäglichen, despotischen Vater der Beiden wohnt, seinen Onkel Erich und dessen Frau Magda erschlagen hat. Für Max bricht eine Welt zusammen und er fliegt daraufhin nach Ewigkeiten wieder nach Deutschland, wo ihn bei der Suche nach den Hintergründen der Tat seines Bruders alles wieder einholt, die degenerierte, verlogene und spießbürgerliche Welt seiner Heimatstadt und deren Menschen, eine Welt des eisernen Schweigens und der Verdrängung. Stück für Stück wird im Zuge der polizeilichen Ermittlungen das ganze Grauen, das seinen Familienclan umgibt, gehoben und sichtbar. Der Autor hat in seinem Buch, das er bewusst nicht als Autobiografie schreiben wollte, über die Person des Max weitgehend sein eigenes Leben verarbeitet, indem er nach ewigem qualvollem Schweigen endlich den in frühester Kindheit selbst erlebten, Jahre andauernden Missbrauch durch seine eigene Tante in den Mittelpunkt stellt, auch in den heutigen Zeiten ein trotz überraschend hoher Fallzahlen ein selten thematisiertes „Tabu im Tabu“. Dabei bedient er sich einer streckenweise zynischen, respektlosen, aber immer stimmigen und seine ganze innere Zerrissenheit widerspiegelnden Sprache, die einen sofort mitnimmt und ans Buch fesselt. Gnadenlos und gekonnt tranchiert er hier nochmal die ganze elende Welt der deutschen Nachkriegsjahrzehnte, in der die heile Familie oberstes Gebot war und jeder dunkle Fleck (von denen es unzählige und überall gab) systematisch unter den Teppich gekehrt wurde, eine Zeit des großen Verleugnens und des Machtmissbrauchs bis hinab in die innersten Familienstrukturen. Reh formuliert und zitiert in seinem Roman derart dicht an der damaligen Realität mit ihren unerträglichen Sprüchen und „Lebensweisheiten“, dass es mir während der Lektüre tatsächlich streckenweise hochgekommen ist. Die Metamorphose und das „Erwachen“ von Max und seinem Bruder Nikolas sind einfach grandios geschrieben, das Auftauen des „Schneeköniginmechanismus“, mit dem Max wie in Andersens Märchen sein ganzes Leben lang als Selbstschutz einen Ring aus Eis um sein Herz legt, um nichts mehr fühlen zu müssen. Und genauso großartig ist zu lesen, wie die ganzen noch lebenden Mitglieder des Familienclans und sonstige Mitwisser im Zuge der äußerst medienwirksam betriebenen Wahrheitsfindung seitens Staatsanwaltschaft und Behörden gezwungen sind, endlich Farbe zu bekennen, teils über sich hinaus wachsen und sich entweder auf die Seite der „Guten“ schlagen oder weiterhin ignorant das große selbstgefällige Leugnen fortführen. Der Wutschrei eines Betroffenen, eine solide Abrechnung in Buchform, ein aus meiner Sicht wertvolles, notwendiges, authentisches und überzeugendes Werk.

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