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jankuhlbrodt

Posted on 27.8.2020

Der andere Anfang In der Reihe 'Die fröhliche Wissenschaft' im Verlag Matthes und Seitz ist jüngst ein Buch des russischen Philosophen Bibichin erschienen: Der andere Anfang. Der Titel ist doppeldeutig. Einerseits zielt er auf einen alternativen Beginn des Ganzen der Philosophie und andererseits auf einen Neubeginn der Philosophie nach dem Ende der Sowjetunion. Vladimir Bibichin, der 1938 geboren wurde und 2004 in Moskau starb, zählt zu den einflussreichsten russischen Philosophen in der Zeit nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems. Mit dem System fand auch die auf dogmatischen Marxismus-Leninismus ausgerichtete Philosophie, die lange Zeit als historischer und dialektischer Materialismus nicht nur an den sowjetischen Hochschulen und Universitäten gewissermaßen exklusiv gelehrt wurde, ihr Ende. Ich selbst studierte in den Achtzigern an der Karl-Marx-Universität Leipzig zwar nicht Philosophie, dafür wurde ich abgelehnt, aber Politische Ökonomie, hatte also mit den Studierenden der Philosophie zumindest im Grundstudium einige gemeinsame Veranstaltungen, und klar: Man kannte sich. Im zweiten Text des Buches beschreibt Bibichin den Umgang mit zeitgenössischen philosophischen Texten zur Sowjetzeit, und das, was er über die Moskauer Universität berichtet, kann man gut so auf die Leipziger Zustände übertragen. Zeitgenössische westliche philosophische Texte würden nicht komplett übersetzt oder gar abgedruckt, sondern auszugsweise in einer Art Reader zusammengefasst. Diese Reader, auch ich hatte mal so ein Ding in der Hand, waren aber nicht allgemein zugänglich, sondern „nur für den Dienstgebrauch“ bestimmt. Also brauchte man selbst zur Einsicht dieser Reader einen sogenannten Giftschein, der einem in der Universitätsbibliothek bestimmte indizierte Literatur zugänglich machte. Das hieß letztlich, die Reader dienten den Wissenschaftsfunktionären, oder sollten ihnen dazu dienen, den Verfall der westlichen Philosophie im Schatten der einzig wahren Lehre zu verdeutlichen. Das Problem dieser Strategie bestand nun darin, dass es dennoch Wissenschaftler brauchte, die sich mit den Originaltexten befassen mussten, sich damit gewissermaßen infizierten, ihnen galt dann von Seiten der Administration ein besonderes Interesse. Man kann also vielleicht sagen, dass die Philosophinnen und Philosophen in der Sowjetunion und im gesamten Ostblock sich in einer Situation wissenschaftlicher Isolation befanden, die im angesprochenen Aufsatz beschrieben wird. Die anderen Texte des Buches zeigen eindringlich, wie ein philosophisches Denken sich aus dieser Isolation versucht herauszuarbeiten, letztlich zu befreien. Dazu nutzt es die ihm dann endlich zugänglichen Texte. Und im Falle Bibichins sind es zum großen Teil jene Martin Heideggers. Aber sie stehen ihm natürlich nicht unmittelbar offen, denn sie sind in einer anderen Sprache entstanden und bedürfen der Übersetzung. Insofern ergibt sich notwendig immer schon eine Verschiebung. Im letzten Text des Buches, der den titelgebenden Titel trägt, wird das eindringlich sichtbar. Im Text „Das Eigene“ entwirft Bibichin eine dem Marxismus und auch der klassischen westlichen bürgerlichen Ökonomie und Philosophie entgegengesetzte Auffassung des Eigentums, die Wirkungsweisen des Eigenen in den Fokus nimmt, die sich jenseits festgeschriebener Eigentumstitel entfalten. Diese Sichtweise verschiebt zum Beispiel auch das historische Bild des leibeigenen Bauern hin zu einer weiter wirkenden Abhängigkeit über die formalen Befreiungen hinaus. Eine Position aus der heraus ihm eine griffige Hegelkritik gelingt. Aus dem anderen Anfang der russischen Philosophie ergeben sich also Perspektiven, die nicht nur nachholend sind, sondern auch für den westlichen Blick äußerst fruchtbar. Übersetzt wurden die Texte von Vera Ammer. Herausgegeben und mit einer nötigen und instruktiven Einleitung versehen von Alexander Michajlovskij.

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