jankuhlbrodt
Die Richterin Auf Seite 188 des im Haymon Verlag erschienenen Romans findet sich eine kurze Sequenz die für mich so etwas wie den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte darstellt. Sie beginnt folgendermaßen: „Wann wird ein Ort, den man täglich durchquert, fremd? Wenn man sich selbst fremd ist, weil etwas Irreversibles geschehen ist.“ Die Szene beschreibt nicht viel mehr als eine vermutete Autopanne. Aber, um die Panne zu beheben, das Fahrzeug zu reparieren, ist vielleicht Polizeischutz notwendig. Und in dieser Sequenz gab es gar keine Panne, nur den Verdacht einer Manipulation an den Bremsschläuchen, der sich letztlich als unbegründet herausstellt. Unbegründet für den Moment. „Der Beamte des Verfassungsschutzes hob sofort ab und gab Entwarnung. Sie durfte aussteigen und sich um die Panne kümmern. Ein Attentat auf Gabrielle wäre unwahrscheinlich, aber als Person des öffentlichen Interesses sollte sie dennoch immer anrufen, wenn sie einen Verdacht hatte, verfolgt zu werden.“ Suspense! Suspense vor realistischem Hintergrund. Politisches Erzählen erster Güte. Was bestimmt unser Leben? Wovon sind wir umgeben? Und damit sei hier einmal nicht die Architektur gemeint, die Häuserschluchten und Fernstraßen, und auch nicht das, was wir landläufig als Natur begreifen, also den Wald, die Seen, Berge und Grasbüschel. Obwohl das alles da ist. Aber unser Leben spielt sich letztlich in einem Gespinst rechtlicher Strukturen ab, juristischer Festlegungen und Maßgaben, gepaart mit ökonomischen Zwängen; und weil wir an sie angepasst sind, und sie letztlich an uns, fallen sie uns nur auf, wenn wir mit ihnen auf die eine oder andere Weise in Konflikt geraten. Auf eine ganz banale Weise vielleicht. Wir finden einen Strafzettel hinter dem Scheibenwischer oder einen Brief im Briefkasten, in dem man uns bittet in einer Sache Stellung zu nehmen. Letztlich aber sind wir den juridischen Strukturen ausgeliefert, oder sie leiten uns. Gabrielle, die Protagonistin in Lydia Mischkulnigs neuem Roman, und hier neige ich dazu, das Wort Heldin zu benutzen, ausnahmsweise, Gabrielle also ist Richterin, und ihre Aufgabe ist es, in Asylverfahren Recht zu sprechen. Sie nimmt also eine machtvolle Position ein, von ihrer Entscheidung hängt es ab, ob Menschen in einem mitteleuropäischen befriedeten Land Schutz und für den Moment auch Frieden finden. Auf dem Schreibtisch der Richterin werden reale Schicksale zu Entscheidungsfällen. Grabrielle weiß um dieses Verhältnis, und sie weiß um ihre Macht, die Macht, die sie im Namen des Volkes, wie es so schön heißt, ausübt. Das heißt aber auch, dass Realitäten im Gericht zu Schriftsachen werden. Gabrielle allerdings setzt viel daran, das Schicksalhafte hinter den Papieren nicht verschwinden zu lassen. Und wie für die Richterin bleiben die Realitäten und das Inselhafte unserer mitteleuropäischen Situation (die Handlung spielt in Österreich) im Roman auch präsent. Und dieser Roman ist alles andere als ein Thesenroman. Er ist Prosa auf der Höhe der Zeit. Die Richterin gewinnt auf jeder Seite auch an menschlicher Gestalt. Sei es im Umgang mit der eigenen Angst, sei es im Umgang mit ihrem penibel ordnungs- und sauberkeitsliebenden Lebenspartner, und auch hinsichtlich einer hintergründig sich entfaltenden tragischen Familiengeschichte. Lydia Mischkulnig ist mit „Die Richterin“ ein zeitanalytisches Meisterinnenstück gelungen.