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mrs.misery

Posted on 27.8.2020

Wollen wir ein Spiel spielen? Stell dir vor, du darfst jemanden online und anonym nominieren, der, sofern er ausgewählt wird, für 12 Stunden vogelfrei ist. Du darfst mit ihm machen was du möchtest. Auch töten. Dafür bekommst du sogar eine Prämie von 10 Millionen Euro!   Was würdest du tun? Wir schreiben den 08.08. um 8Uhr. Der Beginn der AchtNacht. Du hattest Glück. Dein Name wurde dieses Mal nicht gezogen, sondern der von Ben Rühmann. Ben ist für die nächsten 12 Stunden der Gejagte. Und der Jäger? Jeder.  Jeder, der bei dieser Lotterie einen Jagdschein für nur einen Euro erworben hat.  Damit das Spielchen nicht langweilig wird, ziehen wir einfach noch eine zweite Person. Wir wollen doch nicht, dass Ben ein gutes Versteck findet und niemand die Siegesprämie absahnt? Du hattest wieder Glück. Arezu Herzsprung ist die zweite AchtNächterin. Der Countdown beginnt. Ben ist ein gescheiterter Musiker, der nicht nur mit einer in die Brüche gegangenen Ehe zu kämpfen hat. Seit einem Autounfall, den er (mit-) verursacht hat, sitzt seine jugendliche Tochter Jule im Rollstuhl - und liegt seit einem vermeintlichen Suizidversuch im Koma. Von Selbstzweifeln und Vorwürfen geplagt, versucht Ben gerade sein blasses Leben in den Griff zu bekommen, als die digitale Diana seinen Namen in der Todeslotterie zieht. Arezu ist Psychologiestudentin und hat in ihrem jungen Leben viel Gewalt erfahren müssen. Psychisch und Physisch. Auch sie ist gerade dabei, ihr Leben in geregelte Bahnen zu lenken, als sie plötzlich ihre Taschen packen muss, um zu verschwinden.  Die beiden Protagonisten habe eine jeweils sehr gut konstruierte Vergangenheit, die die LeserInnen neugierig macht. Die (für Fitzek typischen) kurzen Kapitel wechseln zwischen den verschiedenen Charakteren, was einen rapiden Spannungsaufbau mit sich bringt.  Befeuert wurde dieser auch durch die jeweiligen Überschriften. Die Zeitangabe der Stunden und Minuten bis zum Ende der AchtNacht, provoziert eine zusätzliche Hektik und treibt die Leserschaft in eine unangenehme Ruhelosigkeit - und das ist ein absoluter Pluspunkt.  Leider beginnt das Spannungsgefüge nach und nach zu bröckeln:  Die Charaktere der Protagonisten wurden nach und nach vernachlässigt, sodass Ben und Arezu auch bis zum Schluss nicht richtig greifbar waren.  Aus der töten wollenden Meute wurden immerhin zwei Menschen herausgepickt, deren ganz individuelle Jagd über das Buch hinweg skizziert wurde. Aber eben auch nur skizziert. Die Abgründe der menschlichen Psyche sind so tief, dass hier mehr hätte rausgeholt werden können. Der Mob blieb meines Erachtens zu anonym. Schließlich handelt es sich um ein aus dem Ruder gelaufenes Experiment. Aktueller denn je, werden Fake-News für bare Münze genommen und Millionen Menschen glauben tatsächlich, straffrei einen Mord begehen zu können.  Apropos: Wenn die Regierung weiß, dass das Fake-News sind, wieso tut sie dann nichts dagegen? Organisiert zum Beispiel Schutz für die AchtNächter und ihre Familien und Daten? Das war meines Erachtens einer der großen Logikfehler dieses Buches. Die exekutive Gewalt des Staates spielt in der AchtNacht überhaupt keine Rolle. Zwar wird Ben kurzzeitig von einem Polizeifreund seines Vaters beschützt, im Rest des Buches findet sie allerdings kaum statt.  Fitzek ließ sich vom Film "The Purge" inspirieren. Auch gibt es eine Folge bei "Rick und Morty", die diesen Gedanken aufnimmt. (Season 2, Episode 9) Diesen Fakt werte ich prinzipiell nicht als negativ. Irgendwie werden SchriftstellerInnen immer von irgend etwas beeinflusst. Schade ist es nur, wenn man diesen Gedanken dann nicht zu Ende spinnt. Die Geschichte wirkt auf mich zu stark konstruiert - als ob Fitzek auf Biegen und Brechen den Überbau der Story logisch gestalten wollte und damit den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sah.

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