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mrs.misery

Posted on 27.8.2020

Anna steckt in einer ausweglosen Situation:  Seit ihr Vater gestorben ist, muss sie sich allein um ihre schwerkranke Mutter und ihre pubertierende Schwester kümmern. Außerdem schreiben wir das Jahr 1895. Im Winter. In bitterer Armut. So funktioniert ein guter Einstieg in einen historischen Roman!  Eine junge Frau, die sich doch so viel mehr vom Leben erhofft. Sie möchte, wie fast alle in diesem Alter, die Welt sehen und mehr sein, als die Frau eines Mannes.  Doch der Geist der Gesellschaft zwingt sie in die Abhängigkeit eines möglichst gut situierten Mannes. Oder? Anna jedoch lehnt den Antrag ab, als ihr Wenzel den Hof macht. Denn zeitgleich erreichte sie ein Brief vom englischen Königshaus. Die Queen ist auf ihre handgefertigten Glasengel aufmerksam geworden und lädt sie nach England ein.  Nach langem Zögern willigt Anna ein und tritt, begleitet von dem Gesandten John, das Abendteuer ihres Lebens an.  Jetzt allerdings, beginnt die Dynamik des Romans meines Erachtens nachzulassen. Bis auf die letzten Kapitel, dreht sich das Buch fortan nur noch um die Reise nach England.  Unterwegs wurden Annas Engel gestohlen, und nun muss natürlich alles daran gesetzt werden, diese wieder zu finden, um den Besuch der Queen nicht obsolet zu machen.  Der Aufenthalt in England und Annas Entwicklung nach dieser Zeit werden leider nur knapp betrachtet. Diese Suche hat wahrlich ihre hellen und aufregenden Momente. Denn, wie bitte findet man in einer Kleinstadt in England eine Kiste mit Glasfiguren wieder - so ganz ohne Facebook, Telefon oder der Deutschen Post? Schwierig? Richtig.  Den Gedankengängen der Protagonistin kann man hervorragend folgen.  Corina Bomann verwendet eine stringente, geradlinige Erzählweise aus der Ich-Perspektive, aufgelockert durch ein paar kursiv gedruckte Kapitel, die die Vergangenheitsform oder einen Briefwechsel symbolisieren. Natürlich darf auch eine Liebesgeschichte nicht fehlen. Diese ist, ebenso wie die Suche nach den Engeln, im Jahr 1895 nicht gerade einfach. Denn zu jener Zeit blieben die Schichten unter sich - doch Anna verliebte sich ausgerechnet in einen Adligen. Das Ende war meines Erachtens vorhersehbar, doch das finde ich nicht weiter schlimm. Das hier ist schließlich ein gemütlicher Winterschmöker und kein Kriminalroman mit unzähligen Wendungen.  Apropos Winterschmöker. Obwohl dieser Roman in der Adventszeit spielt, ist es keineswegs nur ein Buch für Weihnachten. Hier werden durch eine subtile Weise ganz grundlegende, unabdingbare Werte des menschlichen Handelns vermittelt - vor allem Dankbarkeit und die Liebe zur Familie.  Während des Lesens gab es einige Abschnitte, die ich als sehr befremdlich empfand. Beispielsweise, dass Anna, die nach ihrer eigenen Aussage noch nie ein Gesicht gemalt hat, aus dem Kopf ein so gutes Phantombild zeichnen kann, dass es auf der Straße erkannt wird.  Oder, dass sie, obwohl sie eine sehr verunsicherte Person ist und den ganzen Tag darüber nachdenkt, wie sie auf ihre Umwelt wirkt, einem Gesandten des Königshauses unmanierliche Antworten gibt.

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