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Glitzer

Posted on 23.8.2020

„Er liebte diesen Ort, dieses Haus, diese Frau – ganz und gar. Es machte ihm Angst, wie sehr.“ (Aidan in Stranger) Worum geht’s? Sie ist die perfekte Frau. Die 43-jährige Caroline hat alles im Leben. Einen perfekten Ehemann, ein wunderschönes durchgestyltes Haus, Geld und eine toller Tochter. Doch dann scheint ihr Glück zu zerbrechen, als ihr Mann offenbar fremdgeht und sogar seine Affäre noch mit zur Einweihungsparty des Hauses bringt. Gedemütigt besäuft sich Caroline und fällt in die Arme des jungen Barkeeper Aiden. Aiden ist für sie Ablenkung und Abenteuer zugleich. Der junge Mann fängt aber schon bald an, immer weiter in ihr Leben einzudringen. Ist Aiden gefährlich? Dem ist sich Caroline sicher. Als dann in einer verhängnisvollen Nacht das Unheil über sie hereinbricht, steht alles Kopf. Und die Frage ist: wer lügt? Stranger ist ein Einzelband und in sich geschlossen. Schreibstil / Gestaltung Das Cover ist für einen Thriller sehr interessant gestaltet. Mit einer Muschel sowie einem insgesamt doch sehr ans Meer erinnernden Design erweckt es zunächst eher den Eindruck, ein anderes Genre zu bedienen. Das hübsche Cover war es jedoch auch, was mich angezogen und am Ende zum Buch hat greifen lassen. Aufwendig und sehr interessant! Das Buch besteht aus zwei Teilen und wird linear erzählt. Es gibt hierbei Caroline als Ich-Erzähler sowie Aiden, der durch einen Erzähler beleuchtet wird. Später tritt noch eine weitere Erzählerperspektive hinzu. Die Kapitel sind nicht entsprechend beschriftet und manchmal kann es etwas verwirrend sein. Der Schreibstil ist flüssig und gut lesbar, manchmal wirken die Passagen aber auch sehr abgehackt und gehetzt. Dies passt zur Stimmung des Buches. Meine Meinung Ich muss zugeben, dass es gewagt war, mich für dieses Buch zu entscheiden. Das Cover hat mich einfach massiv angesprochen und der Klappentext klang gut. Nie im Leben hätte ich erwartet, dass hier eine gut durchdachte, wendungsreiche Geschichte präsentiert wird, die einen bis fast zum Ende mitraten lässt und den Leser immer wieder an der Nase herumführt. Romantic Thrill? Wohl eher nicht. Stranger ist ein überragendes Suspense-Buch in bester „Gone Girl“ und „Girl on the train“-Art. Das Buch besteht aus zwei Teilen. Es gibt die Zeit vor dem Sturm und die Zeit nach dem Sturm. Mit Sturm ist hierbei die verhängnisvolle Nacht gemeint, die alles verändern wird und auf die der erste Teil hinarbeitet, während der zweite Teil an der Aufklärung hiervon knabbert. Vor dem Sturm beginnt mit Caroline und Aiden, die in einer für Caroline schwierigen Situation aufeinandertreffen. Sie ist offenbar von ihrem Mann betrogen worden, das Wort Scheidung (und damit einhergehend ein Schaden ihrer gesellschaftlich perfekte Fassade) steht im Raum. Der junge Barkeeper, der sie nach Hause fährt und mit dem sie im Bett landet, ist da die perfekte Ablenkung. Doch dann klebt Aiden an ihr, folgt ihr an verschiedene Orte, sucht sogar ihre Tochter auf und tyrannisiert Caroline mit Anrufen. Er liebt sie, sagt er. Dass sie es erneut mit ihrem Ehemann versuchen will, kann Aiden nicht verstehen. So behauptet es zumindest Caroline. Aiden hingegen ist von ihrer Liebe überzeugt. Sie ist alles, was er je wollte. Nachdem er in jungen Jahren im Knast gesessen hat, scheint das Leben es endlich gut mit ihm zu meinen. Er muss Caroline beschützen, immer wieder hat sie ihn doch um Hilfe gebeten. Was tut man nicht alles für die Leute, die man liebt? Und ab hier fängt es an, kompliziert zu werden. Denn: Während anfänglich Aidens und Carolines Erzählungen noch übereinstimmten, fangen sie langsam an, andere Geschichten zu erzählen. Gleiche Erlebnisse münden in unterschiedlichen Bewertungen. Gleiche Taten werden anders aufgefasst. Wer sagt sie Wahrheit? Ist Caroline eine übervorsichtige, grundlos verängstigte Frau, die ihren One-Night-Stand bereut und ihren Lover jetzt loswerden will? Ist Aiden ein wahnsinniger Stalker, der kein Nein akzeptiert und Stück für Stück übergriffig Carolines Leben zerstört? Diese Frage gilt es zu klären. Denn die Ereignisse münden in einer Katastrophe… Stranger ist komplex. Es beginnt schon damit, dass Aiden durch einen Erzähler präsentiert wird, während Caroline als Ich-Erzählerin aktiv ist. Wieso dies so gelöst wurde? Das ergibt sich im zweiten Teil des Buches – denn es stellt sich heraus: Carolines Kapitel sind ihre Aussage bei der Polizei und deshalb aus der Ich-Perspektive. Es ist ein geschicktes Instrument, um eine Verbindung mit dem Leser herzustellen, denn von Anfang an kriegt man mit, wie sehr sich Caroline vor Aiden zu fürchten scheint. Auch Aidens Kapitel, in denen es sehr viel um seine Gefühle geht, um das, was er für Caroline alles machen würde und auch darum, was er tatsächlich für sie tut – zumindest nach seiner Vorstellung – geben facettenreiche Einblicke. Ich war lange Zeit unschlüssig, wem ich glauben soll, denn sobald ich gemerkt habe, dass die Erzählungen auseinander gingen, war mir klar: Hier wird der Schlüssel liegen. Es wird darum gehen, wer die Wahrheit sagt. Und so ist es auch. „Nach dem Sturm“ greift dieses Thema auf. Hier verschwindet Caroline als Erzählerin und stattdessen dürfen wir die Polizisten Jess begrüßen, die den Leser beim Ermitteln mitnimmt. Doch bis dahin ist es ein Pingpong-Spiel. Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich zeitweise mit Caroline sympathisiert habe, aber zeitweise auch das Gefühl hatte, eher auf Aidens Seite zu sein. Wieso will Caroline die Affäre so vehement verstecken? Wieso weigert sie sich trotz konkreter Bedrohungen, die Polizei zu informieren? Wieso versteht Aiden ihre Ansage nicht und taucht etwa bei der Tochter Hannah auf? Wer ist hier die böse Person, wer ist das Werkzeug, wer belügt wen?! Es waren viele Puzzleteile, kleine Nebensätze, gesäte Zweifel, bedrückende Momente und manchmal auch die Holzhammer-Methode, die den Leser auf gewisse Punkte stoßen wird. Aber kann man alles glauben, was Caroline erzählt? Kann man Aidens Ausführungen vertrauen? Alles ist möglich bei Stranger. Caroline und Aiden sind nicht gerade einfache Charaktere. Caroline zeigt von Anfang an, welchem Stand sie zugehörig ist. Die perfekte Fassade, ihre gesellschaftliche Stellung, ihr Traumhaus – das ist ihr alles wichtig. So kommt es auch, dass immer wieder das Thema aufkommt, dass sie Sorge vor Klatsch hat wegen Aiden. Zeitweise fand ich sie bemitleidenswert, das schwingt aber schnell um und man fängt sie sogar fast an zu hassen. Zwischendurch ist sie komisch naiv (oder tut sie nur so?), verrennt sich immer wieder in „ich hätte es sehen müssen“-Ausführungen (oder lenkt sie ab?) und stößt Aiden mehr als einmal vor dem Kopf (Absicht oder Überforderung?). Unweigerlich fragt man sich dann, ob sie falsche Signale gesendet hat oder vielleicht den Verlauf selbst provoziert hat, obwohl es falsch ist, dem Opfer die Schuld zu geben. So würde ich zumindest normalerweise denken, aber Stranger macht das alles kompliziert und verlangt vom Leser einiges ab. Wie ist das mit Aiden? Good Guy, der vollkommen besessen ist? Wahre Gefahr für Caroline? Missverstandener Lover, der sich immer nur um sie bemüht? Alle Facetten sind mir beim Lesen in den Sinn gekommen und lange konnte ich mich nicht festlegen, ob er Freund oder Feind ist. Die Autorin macht es einem nicht einfach – auf welches Pferd sollte man wieso setzen, auf wessen Seite sich stellen? Am Ende ist der Leser eine Schachfigur, die Aiden und Caroline geschickt manipulieren und der Leser wird vielleicht auch durch seine eigene Erfahrung und seine eigenen Ängste falsche Entscheidungen treffen, so wie auch Aiden und Caroline. Es ist die Polizisten Jess, die dann am Ende erklärt, was wirklich passiert ist. Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit, was ist Lüge, was ist Wahrheit? Phasenweise hatte ich Sorge, dass das Buch nach einem zugegebenermaßen zähne Start zu einem Groschenroman verkommt. Das Klassiker: Reiche Frau hat Affäre, Toyboy akzeptiert kein Nein, es wird kompliziert. Stranger nutzt eben diese klassischen Elemente, um dann zu überraschen. Es dauerte etwas, bis ich in der Handlung drin war, bis ich mit Caroline und Aiden warmgeworden bin. Als sich langsam das Schicksal entfaltet und mir klar wurde, worauf das Unheil hinauslaufen wird, war ich umso gespannter, was die Auflösung sein wird. Ich hatte immer wieder kleinere und größere Theorien und hatte nach etwa 2/3 des Buches dann den Durchbruch, wo ich mir sicher war, dass es so und so sein wird. Am Ende kam es bis auf kleine Nebenhandlungen genau so und die Aufklärung - trotz meiner Vorhersage – konnte mich überzeugen und zufriedenstellen. Es ist keine gigantische, weit hergeholte Auflösung. Vielmehr geht es um schlechter Ort, schlechte Zeit, falsche Vorstellungen und geschickte Manipulation. Als sich das Netz der Intrigen final aufgelöst hat, empfindet man ein Stück weit Genugtuung, aber auch Wut, weil die Beteiligten zu einfach davonkommen und die Unbeteiligten unfairerweise beeinträchtigt sind. Auf jeden Fall bin ich mir jetzt sicher, dass man vorsichtig sein sollte, was man sich wünscht – und vorsichtig sein sollte, wenn man Fremden begegnet. Man kann ihnen nur vor den Kopf und nicht in den Kopf gucken. Mein Fazit Insgesamt hat Stranger mich echt von den Socken gehauen und positiv überrascht. Ich habe gar nicht damit gerechnet, eine so durchdachte, komplizierte und wendungsreiche Geschichte präsentiert bekommen zu haben. Auch wenn das Buch nicht immer einfach zu lesen ist, sind es am Ende die Twists und Erkenntnisse, die mich begeistern konnten. Aiden und Caroline sind komplizierte Charaktere, die es dem Leser schwer machen – und genau so ist es gewollt. Fesselnd bis zur letzten Seite, spannend und hochgradig verwirrend. Absolute Leseempfehlung, wenn man einen Thriller ohne viel Blut und Gewalt sucht, bei dem es nicht hauptsächlich um polizeiliche Ermittlungen geht. [Diese Rezension basiert auf einem Rezensionsexemplar, das mir freundlicherweise vom Verlag überlassen wurde. Meine Meinung ist hiervon nicht beeinflusst.]

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