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Bris Buchstoff

Posted on 16.8.2020

Mathis und Théo sind beste Freunde und haben ein Geheimnis: In einem Versteck in ihrer Schule trinken sie ab und zu und immer öfter Alkohol. Kein Bier, keine Alcopops, sondern Hochprozentiges. Aus Neugierde und als „Spiel“ begonnen, entwickelt sich das Trinken mit beängstigender Ernsthafttigkeit zu einer Bedrohung ihrer Gesundheit. Vor allem bei Théo. Mathis lebt von außen betrachtet in einem stabileren Familiengefüge als sein Freund und erkennt rasch, dass Théo tatsächlich in Gefahr ist. Denn Théo möchte nichts sehnlicher, als sich aufzulösen. Verschwinden möchte er oder zumindest die ihn zermürbenden Ohrgeräusche loswerden, die ihn vor allem nachts belästigen und so den dringend notwendigen Schlaf rauben. Das warme Gefühl, das er empfindet, wenn er den ersten Schluck Alkohol seine Kehle hinunter in den Magen fließen spürt, lässt in ihm den Plan reifen, sich ins Koma zu trinken und somit den alltäglichen Erfordernissen, die ihn stark belasten und überfordern, zu entkommen … Delphine de Vigan widmet sich in ihrem außergewöhnlichen Roman „Loyalitäten“ nicht nur dem nach wie vor aktuellen Thema Alkoholmissbrauch von Jugendlichen, sondern zeichnet gleichzeitig ein vielschichtiges und differenziertes Bild unserer Gesellschaften: Erwachsene Menschen, die ihrer Verantwortung für das eigene Leben und vor allem das ihrer Kinder nicht nachkommen (können), zwingen ebendiesen Situationen auf, die sie nicht bewältigen können oder müssen sollten. Hier sind es exemplarisch Théos Eltern, die bereits seit Jahren getrennt leben, das Sorgerecht für ihren Sohn auch aus finanziellen Gründen teilen und Théo damit in eine existentielle Krise stoßen. Wie heutzutage durchaus üblich – auch mein Sohn hat mehrere Klassenkameraden, deren Eltern sich auf diese Weise das Sorgerecht teilen – verbringt Théo jeweils eine Woche von Freitagabend bis zum nächsten Freitag bei der Mutter, dann packt er selbständig und alleine Sachen am Freitagmorgen vor der Schule und wohnt ab dem Freitagnachmittag die nächste Woche bei seinem Vater. Während der Vater immer weniger fähig ist, sich um eine für einen 13-Jährigen angemessene Umgebung zu kümmern, läuft bei der Mutter alles in geregelten Bahnen. Allerdings erst ab dem Zeitpunkt, an dem Théo alles, was an die beim Vater verbrachte Woche erinnern könnte, eliminiert hat. Soll heißen: Er kommt heim, geht duschen und wäscht seine Kleider, damit nicht mal die Andeutung eines bestimmten Geruchs in der Wohnung der Mutter hängen bleibt. Die Wut seiner Mutter auf ihren Exmann führt dazu, dass Théo für sie nur noch existiert, wenn er bei ihr ist. Im Grunde genommen beraubt sie ihn damit der Hälfte seiner eigenen Existenz. Es interessiert sie in keiner Weise, wie es ihm in der Woche beim Vater ergangen ist. Sie selbst hat nach einer langen wütenden und auch verzweifelten Zeit einen Strich unter die Ehe gemacht, die Verbindung komplett gekappt, was allerdings vor allem ihren Sohn trifft. Eine Situation, die Théo vor allem in seinem Umgang mit anderen Menschen prägt: „Théo lernte sehr schnell, die Rolle zu spielen, die von ihm erwartet wurde. Sparsam gesprochene Worte, neutraler Gesichtsausdruck, gesenkter Blick. Man mußte sich unbedingt bedeckt halten. Auf beiden Seiten der Grenze drängte sich das Schweigen als das beste, als das am wenigsten gefährliche Verhalten auf.“ (S.45) Mathis hat in Théo – vielleicht auch aufgrund dieser Verhaltensweise – sofort einen Gleichgesinnten, einen Einzelgänger, erkannt. Ohne viele Worte zu wechseln, verstehen sich die beiden. Während Mathis zu Hause wenigstens den üblichen Fixpunkt in einer anwesenden, fürsorglichen und liebevollen Mutter hat, die zwar auch eigene Probleme zu lösen versucht, aber merkt, wenn ihr Sohn betrunken aus der Schule nach Hause kommt, versucht Théo nur irgendwie den Kopf über Wasser zu halten. Das Band, das die beiden Jungs verbindet, ist stark. Mathis erkennt im Lauf der Zeit instinktiv, was Théo Angst macht. Er versucht ihn daraufhin unaufdringlich, aber ernsthaft zu unterstützen und auch zu schützen. Als Théo im Sportunterricht von seiner Lehrerin regelrecht vorgeführt wird, weil er seine Sporthose einfach nicht finden konnte, versucht Mathis mehrfach einzuschreiten. Auch der Rest der Klasse bemerkt, dass die „Bestrafung“ weit übers Ziel hinausgeschossen ist. Teenager befinden sich durchaus in einer äußerst sensiblen Phase. Théos Vater ist es nicht möglich aufgrund seiner stetig wachsenden Depression, seinem Sohn die notwendige Stütze in dieser schwierigen Entwicklungsphase zu sein, seine Mutter empfindet ihn als groß genug, das alles selbst zu wuppen. Als Mutter eines bald Zwölfjährigen, der gerade extrem in diese anstrengende pubertäre Phase steuert, blutet mir bei solchen Szenen das Herz. Vor allem, weil ich auch genau weiß, dass diese Beschreibungen für viele Kinder Alltag sind. Und deshalb ist vielleicht auch gar nicht so sehr verwunderlich, dass mein Sohn sich erst unbemerkt von mir, das Buch gegriffen und – ja – gelesen hat, wohlgemerkt, bevor ich damit durch war. Ich saß an unserem Schreibtisch, mein Sohn hinter mir – normalerweise ist das für mich eine etwas merkwürdige Situation, weil Leonard mich gerne bei den Dingen, die ich gerade erledige, unterbricht. Natürlich versuche ich meine Grenzen zu setzen und bitte ihn, mich fertig machen zu lassen, was ich da gerade tue. Dieses Mal aber war er nach anfänglichem Rumkruschen leise. Als ich hinter mich sah, hatte er de Vigans Loyalitäten in der Hand und las – bis Seite 40 war er bereits gekommen. Und hörte an diesem Tag nicht mehr damit auf, in diesem Roman, der ja eigentlich für Erwachsene geschrieben wurde, zu lesen. Da ich ein wenig unsicher war, ob das wirklich die richtige Lektüre für einen noch nicht mal Zwölfjährigen sei, habe ich abends weitergelesen und wir haben uns am nächsten Tag ausführlich über unsere Lektüre unterhalten. Interessanterweise nahm er die Situation der beiden Jungs fast genauso wahr, wie ich. Er fand es erstaunlich, was Théo empfand, wenn er Alkohol trank, die Gründe dafür waren ihm mehr oder weniger klar. Der Beweggrund, den Tinnitus, der auf die Überforderung durch die nicht kindgerechte Situation hinweist, wegzubekommen, stand bei meinem Sohn im Zentrum. Die Probleme, die Mathis Mutter selbst hat, hat er ziemlich genau wiedergeben können. Ebenso die Geschichte von Hélène, der Klassenlehrerin der beiden Jungs, die in ihrer Kindheit und Jugend selbst Misshandlungen erfahren hat und deshalb recht schnell merkt, dass mit Théo etwas nicht stimmt, dass er Hilfe braucht. Von Erwachsenen. Ein Punkt, der in meinen Augen nur für diesen Roman spricht und ihn vielleicht sogar zu einer Art Schullektüre machen könnte. Leonard konnte die Gefühle von Théo und Mathis, auch bezüglich ihrer Verbindung zueinander sehr gut nachempfinden. De Vigan lässt die beiden selbst sprechen und das eben auch in meinen Augen sehr realistisch. Die Eindrücke der Jungs werden durch die Perspektiven von Mathis Mutter Cécile und der Klassenlehrerin Héléne komplettiert, die jedoch einen anderen Blick auf die Geschehnisse haben und aus eigenen Erfahrungen heraus Vermutungen anstellen, die nicht immer zutreffen müssen. Hélène sieht und spürt, dass Théo Probleme hat, vermutet Misshandlungen, die aber nicht nachzuweisen sind – jedenfalls nicht äußerlich sichtbar – und will ihm helfen. Sie sieht als Einzige ganz klar, wie sich Théo fühlen muss: „Ich dachte, der Kleine sei misshandelt worden, das dachte ich sehr bald, vielleicht nicht an den ersten Tagen, aber nicht lange nach Schuljahresbeginn, es war etwas an seiner Art, sich zu halten, sich dem Blick zu entziehen. „ Aber wie das oben bereits erwähnte Zitat zeigt, ist das eben auch Théos Art, den Frieden auf beiden Seiten der Grenzen, wie er es nennt, zu wahren. Überhaupt ist Schweigen ein alle Figuren des Romans verbindendes Element. Hier verschweigt jeder jedem etwas – fast, bis es zum dramatischen Ende kommt. Doch glücklicherweise ist es Mathis, der sich dann doch dafür entscheidet, das Schweigen zu brechen. Als Leserin ist man geradezu erleichtert darüber, auch wenn – oder obwohl – de Vigan das Ende dennoch offen lässt. Gerade mal 174 Seiten benötigt de Vigan, um uns Leser*innen all die Umzulänglichkeiten unserer gesellschaftlichen Vereinbarungen um die Ohren zu hauen – und das tut sie, auch wenn sie es in einer unaufgeregten Sprache und fast nüchtern tut. Die Eindringlichkeit, die sie damit entfaltet, ist immens und extrem nachhaltig. Mehrere Wochen hat mich die Lektüre beschäftigt. In Gesprächen mit meinem Sohn, im Nachblättern in meinen Notizen und schlussendlich hier, im Versuch, all das, was mir zu diesem meisterhaften Roman durch den Kopf ging, was ich zu entdecken glaubte, in Worte zu fassen. Am eindrücklichsten war für mich die Bürde, die Théo auferlegt wurde, die er sich aber auch selbst auferlegte. Durch eine Bindung, die ihm qua Geburt verordnet wurde, die kein Kind einfach so abschütteln kann – die zu seinen Eltern. Unbedingt lesen – und am besten mit anderen darüber sprechen.

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