Profilbild von mabuerele

mabuerele

Posted on 13.8.2020

„...Freunde kannst du dir aussuchen, die Familie hast du am Hals. Ob du willst oder nicht...“ Hannas Stoßseufzer erfolgt nicht ohne Grund. Sie war 17 Jahre alt, als sich ihr Vater als homosexuell outete und die Familie verließ. Damals setzte sich Hanna mit ihren Freund Amand nach Südamerika ab. Seit sechs Jahren ist sie zurück. Da ihr ein Schulabschluss fehlt, arbeitet sie bei Hilde in der Kneipe. Vor ihr liegt Tobis 18. Geburtstag. Ihr kleiner Bruder bekam nach einer Fahrt mit Freunden plötzlich eine heftige Diagnose. Er mag Routine und Rituale, rastet aber sofort aus, sobald ein falschen Wort fällt. Die Mutter, die sich als Malerin verwirklicht, ist mit ihm zunehmend überfordert. Die älteren Zwillingsbrüder gehen ihre eigenen Wege und Mike, jünger als Hanna, ist als Musiker kaum in Wien. Die Autorin hat einen Familienroman geschrieben, der tief berührt, weil er zeigt, dass es eben nicht nur Schwarz und Weiß im Leben gibt. Die Geschichte wird aus Hannas Sicht erzählt. Trotz seiner Krankheit ist Tobi hochintelligent. Hanna ist bereit, den Bruder bei sich aufzunehmen. Sie möchte ihn ein Heim geben und hofft, dass ihre Liebe ihn heilt. Unterstützung von der Familie? Schwierig! Die medizinische Behandlung ist anfangs nicht optimal. Die Nebenwirkungen der Tabletten sind heftig, was dazu führt, dass Tobi sie verweigert. Das führt allerdings nach einem Ausraster zur Einweisung in die Psychiatrie. Die Verhältnisse dort sind irgendwann in der Vorzeit stehen geblieben. Ruhigstellen ist das Mittel der Wahl. Auch Tobis Verhältnis zur Mutter ist sehr durchwachsen. Einerseits besteht Tobi darauf, sie regelmäßig zu sehen, andererseits eskaliert die Situation meist in ihrer Gegenwart. Hanna lädt zu einem Familientreffen, um ihren Standpunkt darzulegen „...Die wollen bestimmt nicht hören, was ich alles auf der Psych gesehen habe, ganz gewiss wollen sie das nicht. Wollen nicht haben, dass ein Rädchen in der Familie ihr selbst zusammengestückeltes Bild von Glück und Harmonie zerstört….“ Drei der Protagonisten haben mich in ihrem Auftreten und in ihrer Entwicklung echt überrascht. Das ist zum einen Orlando, der Freund des Vaters. Er möchte nicht abseits stehen, er sehnt sich nach Familie und gibt sich viel Mühe, wenn er mit Tobi zusammen ist. Zum anderen ist es Bruno, Hannas betagter Nachbar. Er bringt Tobi allein mit Worten dazu, Dinge zu tun, die der nicht möchte, die aber notwendig sind. Und als dritte möchte ich Hannas Chefin erwähnen, nach außen hart und ruppig, aber innerlich weich wie Butter. Sie vertritt fast Mutterstelle an Hanna. Es geht durch einige Tiefen, bis Hanna begreift, dass sie nicht das Leben ihres Bruders leben kann, dass er sein Leben in die eigene Hand nehmen und Hilfe akzeptieren muss. Hanna formuliert das so: „...Was sich nicht aufhalten lässt, muss man loslassen. Jetzt habe ich es geschnallt, fühlt sich gut an...“ Hanna wird immer für Tobi da sein, kann aber nun auch ihr eigenes Leben führen. Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es zeigt auf zugespitzte Art, wie schwierig es ist, mit mancher Diagnose in der Familie umzugehen. Wegducken ist genauso wenig eine Lösung wie zu viel Fürsorge.

zurück nach oben