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tintenwelten

Posted on 4.8.2020

Annikas einziger Lichtblick in ihrem tristen Job als Altenpflegerin sind die heimlichen Pokerrunden mit dem griesgrämigen Meckerkopf Hermann. Als dieser alte Briefe seiner Tochter wiederfindet und beschließt sie in Paris aufzusuchen, türmen die beiden kurzerhand aus dem Seniorenheim und machen sich auf den Weg nach Frankreich. Natürlich läuft nicht alles wie gewünscht und so stranden sie schon bald in einer kleinen Pension im Elsass. Dieses Buch hat mich durch seine liebenswürdigen Charaktere direkt in seinen Bann gezogen. Da ist Annika, die von allen ungerecht und bevormundend behandelt wird, vor allem aber von ihrer Mutter, ihrer „besten“ Freundin oder der Pflegedienstleitung. Da fühlt sie sich glatt geschmeichelt, dass Hermann sie für seine Reise auserkoren hat. Außerdem hat sie ihren eigenen Vater viel zu früh verloren, sodass sie unbedingt bei dieser Familienzusammenführung ihren Beitrag leisten will, schließlich will Hermann vergangene Fehler wieder gut machen. Auf der anderen Seite ist Hermann, dem es im Seniorenheim überhaupt nicht gefällt. Er fühlt sich wie ein Kind behandelt und um seine Selbstständigkeit und seine freien Entscheidungen beraubt. Als sein letzter Arztbesuch dann ganz anders endet als erhofft, wird ihm klar, dass er noch ein paar Dinge zu regeln hat. Außerdem möchte er seinen Lebensabend nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten. Da kommt ihm Annika grade Recht, denn sie ist immerhin die sympathischste unter all den Pflegerinnen. Der Umgang der beiden ist einfach schön zu beobachten, sie kommen sich immer näher, werden immer vertrauter und wachsen sich zunehmend ans Herz. Neben den beiden Protagonisten gibt es natürlich eine Vielzahl an Nebencharakteren, die ebenfalls zu der freundschaftlichen und familiären Atmosphäre beitragen. Zudem sind auch die Beschreibungen der Pension, der Landschaft sowie der kulinarischen Köstlichkeiten sehr eingängig und machen Lust auf mehr. Kleiner Kritikpunkt: es wurde zwar Wein getrunken, von einem Weinberg (bezüglich des Titels) fehlte aber jede Spur. Außerdem war das Buch doch stellenweise ein wenig realitätsfern. So entfernen sich Annika und Hermann ohne jede Erklärung aus dem Seniorenheim. Während der gesamten Reise kommt aber kein Lebenszeichen von Annikas Mutter, Freundin Maike oder gar ihrer Arbeitsstelle, um sich nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Man bedenke, dass sie keinen Urlaub oder ähnliches genommen hat. Man bemerkt zwar zu Anfang, dass sie in ihrem Job nicht unbedingt glücklich ist, über tatsächliche Folgen ihres Handels macht sie sich aber wenig beziehungsweise nicht ausreichend Gedanken. Auch die Tatsache, dass Hermann nicht polizeilich gesucht wird, ist völlig unlogisch, grade wenn man sich seinen Gesundheitszustand ins Gedächtnis ruft. Leider ist auch das Ende diesbezüglich sehr offen. Generell kam besagtes Ende dann relativ schnell, aber unerwartet. Vor allem hat es auch einige Fragen offen gelassen. Die Sache mit Paris und Hermanns Tochter wurde für meinen Geschmack ein bisschen zu kurz abgehandelt, da hätte ich mir noch „mehr“ und tiefgründigeres erhofft. Auch die Liebesgeschichte im Roman war zwar ganz nett, aber nicht unbedingt etwas besonderes. Mir hat dort das gewisse Etwas gefehlt, um diese Verbindung glaubhaft zu mehr als nur einer kleinen Verliebtheit zu machen. „Weinbergsommer“ ist ein Buch über verpasste Chancen, Wiedergutmachung, Freundschaft, Familie und Selbstbestimmung. Es thematisiert auch das Altern und die Einschränkungen, die damit einhergehen können. Es war oft humorvoll, aber auch emotional und traurig. Für mich eine unterhaltsame Geschichte für Zwischendurch.

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