DasIgno
Ende des Zweiten Weltkriegs wird die gutbürgerliche Hildegard von Kahmen wie so viele aus ihrer Heimat in im damaligen Ostpreußen vertrieben. Gemeinsam mit ihrer fünfjährigen Tochter Vera flüchtet sie in den Westen und landet schließlich in einem Dorf in der Elbmarsch, dem Alten Land. Die Freude über die Neuankömmlinge ist sehr begrenzt, sie kommen schließlich in einem Zimmer auf dem Hof von Ida Eckhoff unter. Das Landleben ist hart und hinterlässt seine Spuren. Jahrzehnte später steht Hildegards Enkelin Anne vor den Trümmern ihres Lebens. Der Freund und Vater ihres Kindes Leon liebt eine andere, das hippe Leben in Hamburg-Ottensen macht sie fertig, ihre Arbeit ist eine einzige Enttäuschung. Sie flüchtet – ausgerechnet an die Tür des Hofes im Alten Land, vor dem auch ihre Großmutter und Tante einst standen. ›Altes Land‹, der Debütroman von Dörte Hansen, erschien 2017 bei Knaus, einem Imprint von Random House. Der Roman umfasst 303 Seiten, die sich in 26 Kapitel gliedern. Ein altes Bauernhaus im Alten Land ist das Zentrum des Romans. Viel hat es erlebt, jetzt – in der Gegenwart – ist es abgelebt. Vera wurde es nie richtig zur Heimat, trotzdem gehört es unzweifelhaft zu ihr. Genauso ist es mit dem Dorf, in dem sie, das »Polackenkind« aufwuchs. Zwischen Kirsch- und Apfelbäumen, Pferden und kauzigen Bauern. Ihre ganze Welt und doch ist sie nie richtig mit ihr verschmolzen. Ähnlich geht es Anne in ihrer ganz anderen Welt. Profimusikerin sollte sie werden, so hatte es ihre Mutter Marlene, Veras Schwester, für sie vorgesehen. Doch dann kam ihr Bruder und war talentierter, Anne war abgeschrieben. Sie machte eine Tischlerlehre, bekam ihren Sohn von Christoph, einem Schriftsteller, und ging als musikalische Früherzieherin für die Kinder der Powereltern nach Hamburg-Ottensen. Auch sie kam dort nie an, wurde nie glücklich. Als all das zusammenbricht, findet sie in Vera und ihrem abgewirtschafteten Hof schließlich eine neue Perspektive. ›Altes Land‹ ist ein Zusammenschnitt von Lebenslinien unterschiedlichster Art. Zentral sind die von Vera und Anne, doch es sind bei Weitem nicht die einzigen. Da ist Hildegard, mit der alles begann. Da ist Marlene, Veras Stiefschwester, die in völlig anderen Verhältnissen aufwuchs. Oder Hinni Lührs, Veras Nachbar, der zwar drei Kinder in die Welt setzte, am Ende aber doch ohne einen Erben für seinen Hof dasteht. Oder Burkhard Weißwerth, die Karikatur eines Journalisten, der aus seinem hippen Großstadtleben aufs Land zieht, um sich selbst zu verwirklichen und über »das echte Leben« zu schreiben. Oder Dirk vom Felde und seine Frau Britta, die dem klassisch-romantisierten Bauerntum den Rücken gekehrt und sich der industrialisierten Landwirtschaft zugewandt haben. Oder Tischlermeister Carsten Drewe, bei dem Anne einst lernte und der mit dem Wandel seines Berufszweigs zu Plastikfenstern und Pressspahnmöbeln nichts anfangen kann. Das Problem lässt sich erahnen, das sind ganz schön viele Zeitlinien für 303 Seiten. Und tatsächlich, viele Figuren scheinen nur angekratzt, ein paar wenige sogar überflüssig. Burkhards Handlungsstrang beispielsweise fand ich wenig relevant. Über das Verhältnis von Vera und Hinni hätte ich dagegen gerne mehr erfahren. Trotzdem, der Roman ist unterhaltsam und er lebt, genau wie später ›Mittagsstunde‹, vor allem von der Art, wie Dörte Hansen erzählt. Denn im Spiel mit einfachen Bildern und Gefühlen ist sie eine wirklich Gute. Trotz der vielen Stellen, an denen die Geschichten unvollständig wirken, fällt es absolut nicht schwer, sich in die Figuren und ihre Lebenswelt zu versetzen. Und trotz all der Bilder und Gefühle wird ›Altes Land‹ nicht melancholisch oder anklagend, Hansen schafft auf ihre nordisch-trockene Art da einen spannenden Spagat. Wo wir bei der Sprache sind, muss ich aber auch wieder ein Wort der Kritik loslassen. Es geht, man kann es sich schon denken, um diskriminierende Sprache. Die gibt es mehrfach und an den meisten Stellen hat sie ihre Berechtigung für die Geschichte. Das »Polackenkind« ist da wohl der klarste Fall. Das kritisiere ich nicht, das braucht der Roman und es ist auch so eingesetzt, dass es nicht nach Billigung klingt. Allerdings taucht, wie später in ›Mittagsstunde‹, wieder das B-Wort auf – wieder in einem Kontext, in dem es nicht nötig wäre. In ›Mittagsstunde‹ war es der »Küchenb***o«, in ›Altes Land‹ ist es der »Bauern-B***o«, jeweils als Selbstbezeichnung. Aus irgendeinem Grund scheint Hansen an diesem Unwort einen Narren gefressen zu haben, anders kann ich mir nicht erklären, dass es in beiden Büchern unbedingt je einmal auftauchen muss. Ich erwähne das so ausführlich, weil es mich aufregt, dass bei mir von einem im Prinzip guten Buch vor Allem dieses Wort hängenbleibt. Das muss doch wirklich nicht sein. Ansonsten hat ›Altes Land‹ eindeutig zu wenig Seiten. Hansen schafft es zwar, vielen Figuren auch auf diesen verhältnismäßig wenigen Seiten erstaunlich viel Tiefe zu verleihen, andere kommen aber zu kurz. Da wäre mehr möglich gewesen und vieles wäre vielleicht auch nachvollziehbarer geworden. Der Roman wirkt dadurch ein bisschen unvollendet, zumal man Anfang und Ende der Handlung um Vera und Anne bereits aus dem Klappentext kennt (wo es aber nicht unbedingt so klingt, als wäre das schon das Ende).