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gwyn

Posted on 28.7.2020

Der Anfang: «… Nils schreckte hoch. Nein, nicht weiter, so viel war sicher. Man konnte nicht davonlaufen. Vor fast nichts …» Nils ist in diesem Ort aufgewachsen, dann hat er ein Jahr lang in England gewohnt, ist zurück und kommt in Saras Klasse. Die Mütter sind befreundet, sie kennt Nils seit Geburt. Und nun ist er hier, sie soll auf ihn achten, dabei mag sie Nils gar nicht so sehr gern – aber irgendwie tut er ihr leid, sie fühlt sich pflichtbewusst verantwortlich. Doch sie hat nichts unternommen. Sie konnte nicht. Keiner hat etwas gemacht. Das erfahren wir in der ersten Vernehmung von Sara, mit der das Buch beginnt. Wer die Vernehmung durchführt, erfährt der Leser nicht. Ist es die Polizei, der Direktor der Schule? Der Schüler Jo Bellman tritt ziemlich arrogant in der Befragung auf, er hat nichts zu sagen. Erster Teil: «Erste Befragung // Sara Auster Montag, neunzehnter Juni, Beginn: vierzehn Uhr dreißig Hallo Sara Sara reagiert nicht. Ist es in Ordnung, wenn ich unser Gespräch aufnehme? Sara zuckt mit den Schultern. … Gut, Sara, dann fangen wir jetzt an. Magst du mir erzählen, was passiert ist? Pause. Dann: Sara schüttelt den Kopf und steht auf. Ich gehe jetzt. Sie geht.» Nils ist verschwunden, nicht aufzufinden, nirgends. Nils ist ziemlich kein, schüchtern, eher schwächlich, trägt keine coolen Klamotten und er ist ein guter Schüler. Er ist ein Außenseiter, den so richtig niemand mag. Jo, Rasmus und Fadi sind die Kings der Klasse, latent aggressiv, großmäulig, vor ihnen hat jeder Angst – jeder bewundert sie. Nils ist ihr Opfer. Gleich morgens nehmen sie sich den Jungen vor, nennen ihn immer nur Detlef, schubsen und knuffen ihn, schmeißen seine Tasche in den Dreck, erniedrigen ihn. Alle anderen schauen weg. Mila gehört zur Gruppe um Jo, jeden Tag sitzen sie bei ihm im großen Garten herum, feiern Partys am Pool. Mila «gehört» Jo, sein Mädchen, so meint er. Auch Mila mischt sich nicht ein, wenn die Jungs Nils traktieren, selbst die Lehrer schauen weg. Als die Prüfungen anstehen, hat der Klassenlehrer die Idee, Nils könne mit Mila lernen, sie ist nicht so so gut in Mathe. An dieser Stelle kippt die Story. Klar, auch Nils ist wie jeder Junge in Mia verliebt, macht sich aber keine Chancen aus. Doch ganz langsam entwickelt sich so etwas wie eine lose Freundschaft zwischen ihm und Mila. Gleichzeitig rückt sie weiter von dem großmäuligen Jo ab, was den wiederum rasend macht. Was will die schöne Mila mit Detlef, dem Knirps? Nils wächst merklich mit der Freundschaft. Die Jungenbande nimmt Nils nun richtig in die Zange und plant eine fette Abreibung, die per Video ins Netz gestellt werden soll. Sara sieht das kommen, alle sehen es kommen, niemand tut etwas! Rasmus erpresst Sara – er will sie küssen, begrabbeln – lässt sie ihn ran, bleibt Nils verschont. Sara hat Angst vor Rasmus, ekelt sich vor ihm. Mila wird von Jo bedrängt, auch sie mag sich nicht betatschen lassen – doch Mila weht sich knallhart, ein lautes Nein, wegschubsen, Ohrfeigen. Sie wird dafür büßen müssen. Nils sieht es kommen, ahnt, dass die Jungs etwas mit ihm vorhaben – die Luft knistert wie ein Holzscheit im Feuer. Und Nils lässt die Schmach über sich ergehen, behauptet, es wäre eine Mutprobe von ihm gewesen. Doch dann brennt bei ihm die Sicherung durch. Hier geht es um das Thema Mobbing – um das kollektive Wegschauen. Drei Jungs machen Ärger, stürzen sich auf das schwächste Glied in der Kette und alle anderen schauen zu. Kinder benötigen Anerkennung und Zugehörigkeit – Nils erhält nichts davon in der Klasse – lediglich der Lehrer lobt ihn für gute Leistung, was letztendlich auch noch kontraproduktiv ist. Einen wertschätzenden Umgang miteinander zu führen, Gewaltprävention in den Schulregeln einzubinden, ist meiner Meinung nach unter anderem die Aufgabe von Lehrern. Diese hier sehen allesamt weg – die junge Lehrkraft, die sich einmischen will, bekommt «Klassenkeile» seitens des Kollegiums: Wir wollen viele Anmeldungen im nächsten Jahr, aber wenn wir ein Fass aufmachen, dann gehen die Schüler woanders hin, und Sie sind die Erste, die ihren Job verliert, sagt ihr der Direktor. Jos Truppe erhält Anerkennung – jeder wäre gern dabei. Anerkennung durch Aggression – Prestige durch das Gefühl von Stärke und Macht. Urinstinkte – der Starke soll der Häuptling sein. Alle schauen weg, jeder einzelne meint, er könne nichts tun, hat selbst Angst vor Repressalien, Angst, selbst das nächste Opfer zu sein. Sind nicht alle, die wegschauen, sich nicht einmischen, genauso schuld wie die Aggressoren? In Gruppen mit guten Beziehungen kommt es weniger zu Mobbing und Gewaltvorfällen. Doch ist das in der Schule möglich? Und wie können wir Kinder und Jugendliche schützen? Mit harten Strafen erzeugen wir selbst Gewalt – was nicht immer völlig falsch ist. Selbstbewusstsein, Kommunikationsfähigkeit oder Handlungskompetenz in Konfliktsituationen können wir als Pädagogen stärken – die Kinder stärken, die ein typisches Opfer darstellen, die sensibilisieren und stärken, die normalerweise wegschauen. Mobbing ist ein Tabuthema. Gabi Kreslehner hat es angesprochen. Mobbing ein massiver Angriff auf den Selbstwert einer Person, denn die fühlt sich inder Regel in irgendeiner Weise selbst mitschuldig. Sara sagt, Nils soll sich das nicht gefallen lassen, Mila sagt es. Nils selbst meint, er sei eben klein, uncool und kein Schläger, was soll er schon tun – selbst Schuld, er könnte sich ja verändern. Jemanden zu sagen, er soll sich zur Wehr setzen, ohne ihm beizustehen, bedeutet, ihn allein zu lassen. Sara wiederholt laufend: Sie konnte nichts machen – eine wiederholende Selbstentschuldigung. Die Autorin legt Mechanismen offen, denen man als Leser sogleich widersprechen mag. Das Buch eignet sich insofern gut, mit einer Klasse, einer Gruppe, über Mobbing zu sprechen. Nils ist eine Romanfigur – wie könnte man Nils helfen, was haben die anderen falsch gemacht? Wie stellt man aggressive Typen bloß? Muss man sie bewundern? Verwundert hat mich allerdings das Verhalten der Lehrer, der Charakter des merkwürdige Mathelehrers, der aus einem anderen Jahrhundert stammen könnte. Ein wenig klischeehaft sind die reichen, arroganten Jungs, um die sich die Eltern nicht kümmern, die immer für Bösewichte herhalten müssen, der Tunese Fad, der hier als Migrant endlich Aufmerksamkeit erhält. Insgesamt ein guter Roman zu einem Tabu-Thema. Sprachlich ist das Buch interessant aufgebaut. Es gibt drei Tage lang Befragungen und Antworten, Sara berichtet am meisten. Dazwischen wird die Geschichte in der Rückblende erzählt. Distanz und Nähe wechseln in der Einstellung. Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, die Dichte der Ereignisse machen die Geschichte spannend. Der Tyrolia Verlag gibt eine Altersempfehlung ab 13 Jahren, dem schieße ich mich an. Gabi Kreslehner, geb. 1965, arbeitet als Autorin, Lehrerin und Theaterpädagogin. Sie schreibt für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Ihr Jugendroman «Charlottes Traum» wurde unter dem Titel «Beautiful Girl» (2015) verfilmt.

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